editorial
Evelyn Schalk ◄
Diese Ausgabe „Solidarität_0803“ zum Internationalen Frauen*tag erscheint, während zwei Flugstunden entfernt Krieg herrscht.
Seit dem Beginns der Invasion Russlands in die Ukraine ringe ich um Worte. Sie fehlen mir zwischen den Bildern von Militärkonvois und Straßenzügen voll Flüchtender, zwischen rollenden Panzern, zerbombten Wohnhäusern und den Fotos von Verletzten und Toten. Zwischen den Landkarten, überzogen von roten Markierungen. Zwischen den Kriegsparolen und dem Versagen von Sprache. Dem Versagen von allem. Zwischen den Zahlen und Prognosen. Zwischen Angst, Verzweiflung und Wut. Zwischen der Ungewissheit und der Realität dieses Krieges. Jetzt. Heute. Hier.
Eines weiß ich: Solidarität ist so unmittelbar überlebensnotwendig geworden wie selten zuvor.
„Nachdem ich mein Leben lang Kriege beobachtet habe, halte ich sie für eine endemische menschliche Krankheit und Regierungen für die Überträger“, so Martha Gellhorn in Das Gesicht des Krieges – Images of war. Als eine der ersten Kriegsreporterinnen berichtete sie aus dem Spanischen Bürgerkrieg und zahlreichen weitere Kriegen, die das 20. Jahrhundert heimsuchten. Doch im Gegensatz zu fast allen (fast ausschließlich männlichen) Kollegen schrieb sie nicht in erster Linie über militärische Strategien, Truppenbewegungen und tabellarische Verlustvergleiche, sondern über das Leid der Zivilbevölkerung. Ihre Berichte aus dem belagerten Madrid machten sichtbar, was Krieg für jede*n Einzelne*n bedeutet, sie riss das Grauen aus der Abstraktion, der Distanz, sie fand Worte für das Unsagbare.
Solidarität ist das Gegenteil von Krieg und vielleicht die einzige Waffe, um ihn dauerhaft zu verhindern. Krieg stellt die höchste Stufe patriarchaler und rassistischer Gewalt dar. Eine feministische Position kann nur eine sein, die sich gegen jegliche Glorifizierung des Krieges und das Wiedererstarken archaischer Rollenmuster wendet, aber ohne jedes Zögern Partei ergreift gegen Unterdrückung, Verfolgung und gewaltsame Einschränkung von Selbstbestimmung.
Seit diesem Kriegsbeginn erleben wir einerseits die verheerenden Folgen toxischer Männlichkeit, andererseits gleichzeitig die Wiederauferstehung des uralten Heldennarrativs. Frauen hingegen werden nahezu ausschließlich in der Opfer- und/oder Mutterrolle dargestellt. Egal wie viele Soldatinnen, Strateginnen, Expertinnen, Politikerinnen gerade die Geschehnisse mitbestimmen — es sind Männer, die in die Geschichtsbücher geschrieben werden, im 21. Jahrhundert. Erschreckend, wie schnell diese überkommenen Muster wieder da sind und mit einem Streich die Errungenschaften jahrzehntelanger Kämpfe um ein egalitäres Geschlechterbild vom Monitor wischen.
Es wirkt, als hätte sich ein Ventil geöffnet, das nun endlich wieder guten Gewissens erlaubt, in die Kriegsbegeisterung lautstark miteinzustimmen. Besonders folgenreich ist dies, wenn Journalist*innen von einem Tag auf den anderen die Grundlagen ihres, unseren Berufes zu vergessen scheinen und aufs Geratewohl ihrer Selbstgerechtigkeit in den Kommentarspalten freien Lauf lassen. Damit meine ich nicht jene, die jahrzehntelang aus Kriegsgebieten berichten, von ihnen lese und höre ich dieser Tage oft wohlüberlegte Worte. Denn sie sind es, die ihr Leben im Einsatz für Information und Zeugenschaft riskieren und, wie auch in diesem Krieg, viel zu oft damit bezahlen. Diejenigen jedoch, deren Feld bis dato nicht die Krisenberichterstattung war und die dementsprechend wenig Expertise in diesem Bereich haben, sind es, die mitunter am lautesten brüllen und einmal mehr sich selbst und nur sich selbst in den Mittelpunkt rücken. Das ist gefährlich, denn dieser Krieg ist, vielleicht mehr als jeder zuvor (aufgrund der technischen Möglichkeiten bzw. deren Beschneidung), auch ein Informationskrieg neuer Dimensionen.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist ein einziges grauenhaftes Verbrechen, das ungezählte Vergehen und Verstöße gegen die Genfer Konvention sowie gegen die Menschlichkeit in sich vereint: Angriffe auf zivile Einrichtungen, auf Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, humanitäre Konvois, den wiederholten Einsatz geächteter Waffen wie Streubomben, sowie offenen Drohung mit Atomschlägen. Der einzige zukünftige Platz für die Verantwortlichen dieses Grauens ist das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag.
Zahlreiche Kommentator*innen haben bei Kriegsausbruch vom „ersten Krieg in Europa seit 1945“ geschrieben. Was für eine Ignoranz in Anbetracht der Millionen Opfer, der Kriege, Verfolgung, Genozide auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Die Retraumatisierung von Überlebenden in diesen Tagen und Wochen findet selten Eingang in die Berichterstattung und in dieser Ignoranz gegenüber dem Osten und Südosten Europas liegt nur eine der vielen blinden Flecken, die Putins Machtfülle erst ermöglicht haben.
Die Grenzen der europäischen Solidarität treten nicht nur hinsichtlich der nicht vorhandenen bzw. sehr eingeschränkten Embargos von russischem Öl und Gas zutage, sondern auch im Umgang mit Geflüchteten. Es ist ein überwältigend und bewegend, wie in ganz Europa Millionen von Menschen, die vor den russischen Angriffen in der Ukraine fliehen, rasch, unbürokratisch und möglichst gut versorgt aufgenommen werden. Doch solange die rassistische Ungleichbehandlung von Geflüchteten weiterbesteht, so lange Menschen im Mittelmeer ertrinken, in Wäldern erfrieren, an Zäunen und mit Waffen zurückgedr.ngt und in Elendslager an den Außengrenzen gesperrt werden, solange illegale Push-backs stattfinden und Schutzsuchende aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion und/oder Herkunft die selbe solidarische Aufnahme verweigert wird, solange bleibt dieses Europa neokolonial, kapitalistisch und menschenverachtend. Es ist nicht zu glauben, dass es diese Feststellung, diesen Aufruf, heute braucht. Aber solange nicht entsprechend gehandelt wird, solange können die Worte nicht oft genug wiederholt werden: Es gilt allen zu helfen, die Schutz brauchen, denn Krieg ist Krieg und Mensch ist Mensch. (Siehe dazu auch: https://actions.aufstehn.at/offener-brief-ukraine)
Im 21. Jahrhundert verfolgt die Welt den Krieg live auf Social Media. Das hat nichts an der Ignoranz geändert. Nichts daran, dass Menschen im Krieg im Stich gelassen wurden, in Syrien, in Afghanistan, in Jemen. In der Ukraine.
Es bedeutet jedoch Öffentlichkeit für jede*n Einzelne*n und damit Verantwortung. Es bedeutet, nicht wahllos Meldungen aus unbekannten oder nur scheinbar vertrauenswürdigen Quellen weiter zu verbreiten. Es bedeutet, die Worte genau abzuwägen, denn sie sind Munition. Es gibt keine „Krise“ in der Ukraine, sondern einen Krieg oder noch genauer, eine Invasion, einen Überfall durch Russland. Ein Angriffskrieg auf ein friedliches Land ist keine Verteidigung. Es gibt auch diesmal keine Flüchtlingsströme, sondern Menschen, die fliehen müssen. Es sind Menschen, keine Naturkatastrophe. Das ist auch der Krieg nicht, für diesen gibt es Verantwortliche und diese sind zu benennen. Nein, nie ist eine solche Situation nur schwarz oder weiss, es gilt vielmehr, die Gesamtheit der Graustufen sichtbar zu machen und dort, wo es möglich ist, klar zu verorten.
„Nach meiner Theorie ist die Geschichte wie ein Staffellauf: Der Fortschritt in menschlichen Dingen hängt davon ab, dass die individuelle Pflicht, sich den Übeln der Zeit zu widersetzen, von jeder Generation neu angenommen wird. Die Übel der Zeit verändern sich, aber sie werden niemals weniger und würden unangefochten bleiben, wenn es nicht Menschen mit Gewissen gäbe, die sagen: Nicht, wenn ich es verhindern kann“, so Martha Gellhorn.
Diese ausreißer-Nummer erscheint in Kooperation mit dem Women’s Action Forum Graz, neue Standorte, Lesungen, Präsentatione wurden initiiert. Wir spannen in dieser Ausgabe einen solidarischen Bogen zwischen Graz und Prishtina, wo am 8. März tausende Frauen gegen Femizide sowie die Invasions Russlands in die Ukraine auf die Straße gingen und wo die Kriegserfahrung noch allzu präsent ist. Der Belarussiche Oppositionsautor Alhierd Bacharevič nimmt akribisch traditionelle Geschlechterstereotype und Abläufe im Arbeitsfeld auseinander und Barbara Philipp nähert sich dem Thema Solidarität_0803 visuell vielschichtig. Warum Feminismus radikal sein sollte, setzt Martin Murpott im Auftakt seiner neuen Kolumne „punk‘n‘politics“ auseinander.
About war.
Wir werden auf unserem Blog tatsachen.at und damit in den kommenden ausreißer-Ausgaben Autor*innen, Künstler*innen, Journalist*innen und Stimmen von Menschen in und aus der Ukraine mehrsprachig Raum geben, und wir werden das nicht tun, ohne sie für ihre Arbeit zu bezahlen. Sie und ihre Angehörigen stehen nun ohne jegliches Einkommen da und jeder Cent, den sie nicht unmittelbar zum Überleben benötigen, wird humanitäre Initiativen vor Ort unterstützen. Das ist das Mindeste, was wir tun können. (Spenden dafür bitte auf: IBAN: AT94 1700 0001 8000 9361; Referenz: About war.) Dasselbe haben wir bereits für Kolleg*innen aus anderen Krisen- und Kriegsgebieten begonnen und werden diese Bemühungen noch weiter intensivieren. Denn nur wenn Menschen gesehen und gehört werden, deren Sprachen und Perspektiven präsent sind, können sich Verhältnisse dauerhaft verändern. Es ist jene Solidarität, die notwendig ist, damit irgendwann, dafür aber endgültig Wirklichkeit wird, was so oft als Utopie abgetan wurde: Die Waffen nieder! Denn, so Martha Gellhorn: „Es muss eine bessere Art geben, die Geschicke der Welt zu lenken. Sorgen wir dafür, dass sie Wirklichkeit wird.“
Als nicht-kommerzielles Medium publiziert der ausreißer werbefrei und unabhängig. Die Beiträge sind für alle frei lesbar. Damit das auch so bleibt, brauchen wir eure Unterstützung!