Evelyn Schalk ◄
Reisefreiheit im Schengenraum ist einer der Grundpfeiler der Europäischen Union. Doch im vergangenen Jahr hat Deutschland so viele Menschen wie schon lange nicht mehr an seinen Grenzen zurückgewiesen. Mehr als 25.500 Personen wurde die Einreise verwehrt. Das geht aus einer Bundestagsanfrage von Clara Bünger von der Linksfraktion hervor. Die mit Abstand meisten Menschen wurden von Bayern über die Grenze nach Österreich zurückgeschoben, wo seit 2015 wieder Grenzkontrollen stattfinden. Diese sollen sogenannte illegale Migration verhindern. Aber was ist das überhaupt? Wird jemand ohne Pass und gültiges Visum von der Grenzpolizei aufgegriffen, gilt dies als unerlaubte Einreise. Doch jeder Mensch hat das Recht, um Schutz und damit Asyl zu bitten. Deutsche Polizist:innen sind dann verpflichtet, diese Person an die zuständige Erstaufnahmeeinrichtung weiterzuleiten, sodass eine Prüfung des Asylanspruchs erfolgen kann, und zwar unabhängig davon, ob jemand schon in einem anderen EU-Land registriert wurde.
Doch fast 15.000 Menschen hat die Bundespolizei 2022 direkt nach Österreich zurückgeschoben, 64,3 % der unerlaubt Eingereisten. Mehr als 10.000 davon kamen aus kriegsgebeutelten Ländern wie Syrien oder Afghanistan und haben eine sehr hohe Chance auf Anerkennung. Aber laut Bundespolizei habe keiner der Zurückgebrachten den Wunsch nach Schutz und Asyl geäußert. Daher die Rückschiebungen. Oder sind es illegale Pushbacks?
Aussagen von Betroffenen legen das nahe. In erstmals detailliert dokumentierten Berichten, gesammelt von der NGO Pushback Alarm Austria, schildern Menschen aus Syrien, wie sie in Zügen oder zu Fuß im Grenzgebiet angehalten, kontrolliert, auf Polizeistationen gebracht und schließlich nach Österreich zurück überstellt wurden. Alle erklären, sie hätten den deutschen Polizist:innen gegenüber wiederholt gesagt, Asyl beantragen zu wollen. Deutschland sei das Ziel ihrer lebensgefährlichen Flucht über die Balkanroute gewesen, hier haben sie bereits Familie, Freunde, oft die einzigen Menschen, die sie in Europa kennen. „Als sie mich ins Flüchtlingscamp brachten, fühlte ich mich sicher“, so einer der Betroffenen, der anonym bleiben möchte, in der Dokumentation seiner Zurückschiebung. Doch nach drei Tagen überstellten Bundespolizisten den Syrer von München zurück nach Salzburg und übergaben ihn der österreichischen Polizei. Die wiederum hätte ihn einfach weggeschickt. „Hier kannst du nicht bleiben, geh nach Italien!“ hätte man ihm gesagt. Erst nach zwei Wochen ohne Unterkunft und völliger Unsicherheit wurde auf einer Polizeistation in Wien sein Asylgesuch aufgenommen. Ein anderer Schutzsuchender berichtet, er habe sich im Zuge der Kontrolle vor den deutschen Beamten zur Gänze entkleiden und nackt in die Hocke gehen müssen. Eine erniedrigende Prozedur, die in Österreich nach Beschwerde des Betroffenen 2021 als rechtswidrig erkannt wurde, ebenso dessen folgende Zurückschiebung nach Slowenien.
„Menschen, die nach einer langen, schweren Reise in Deutschland ankommen und hier als erstes einen Rechtsbruch erfahren, wirft das völlig aus der Bahn“, so die Juristin Petra Leschanz von Pushback Alarm Austria. Zudem werden Betroffene auch noch mit Strafzahlungen und mehrjährigen Einreiseverboten nach Deutschland belegt. Bei wiederholtem Einreiseversuch droht ihnen gar eine Haftstrafe. „Die Frist für einen Rechtseinspruch ist mit einem Monat mehr als knapp gehalten, kaum jemand ist in der Lage in dieser Situation so schnell einen Rechtsbeistand zu finden“, so Leschanz. „Doch ob ein Asylverfahren in Deutschland oder Österreich erfolgt, kann für den Betroffenen lebensentscheidend sein.“
Aufmerksamkeit von Seiten der Zivilgesellschaft könne etwas bewirken. Wer Zeuge einer Polizeikontrolle von Geflüchteten in Grenznähe wird, solle Hilfe anbieten und Betroffenen eine Telefonnummer zur späteren Kontaktaufnahme geben. Auch Zeugenschaft für ein geäußertes Asylgesuch kann Klarheit schaffen. Denn selbst beim geringsten Zweifel, etwa aufgrund von Sprachbarrieren, ist, so heißt es in der Anfragebeantwortung der Bundesregierung, von einem Asylgesuch auszugehen. In den dokumentierten Fällen kann es aber nicht an Verständigungsproblemen gelegen haben, waren doch Dolmetscher:innen bei den Vernehmungen anwesend. Dennoch wollen die jeweiligen Bundespolizist:innen keine Bitte um Asyl vernommen haben. „Wenn Leute weder schriftlich, noch mündlich noch in anderer Weise deutlich machen, dass sie Asyl möchten“, sei das nicht die Schuld der Polizei, so Matthias Knott, Sprecher der Bundespolizeidirektion München. Jede Situation sei individuell, nicht pauschalisierbar, gegebenenfalls könne man Einzelfälle prüfen.
Fast 15.000 Einzelfälle? Daran glaubt Clara Bünger von der Linkspartei nicht. „Der drastische Anstieg von Zurückweisungen, insbesondere an der Grenze zu Österreich, ist dringend erklärungsbedürftig. Bei den zurückgewiesenen Menschen handelt es sich häufig um Schutzsuchende mit hohen Anerkennungschancen. Dass diese angeblich kein Asylgesuch an der Grenze stellen, was einer Zurückweisung entgegenstehen würde, ist kaum glaubhaft.“ So sieht das auch Katharina Grote vom Bayerischen Flüchtlingsrat. „Aufgrund der hohen Anzahl polizeilicher Zurückschiebungen und der auffallend geringen Anzahl der aufgenommenen Asylanträge müssen wir davon ausgehen, dass ein Teil der Zurückweisungen nicht legal erfolgt“, so Grote.
Selbst die Zahl der Zurückweisungen unbegleiteter Minderjähriger an den deutschen Grenzen ist massiv angestiegen. Waren es 2019 noch 194 Kinder und Jugendliche, so sind es drei Jahre später 2.141 von 7277 allein ankommenden Minderjährigen, die nicht wie gesetzlich vorgesehen in die Obhut von Jugendämtern gegeben wurden.
Die Grenzkontrollen selbst sind laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom April 2022 europarechtswidrig und dürften ohne neue Begründung nicht fortgesetzt werden. Dennoch wurden sie an der Grenze zu Österreich gerade wieder um sechs Monate verlängert. Karl Kopp, Europasprecher von Pro Asyl, fordert angesichts der „erodierenden Schengenfreizügigkeit“ ein unabhängiges „Border Monitoring Project“ sowohl an den Außengrenzen, „wo die Brutalität mittlerweile gigantisch ist“, aber eben auch an den deutschen Binnengrenzen. Es müsse „eine Stelle mit Personal und Mandat“ ausgestattet werden, die hier für Transparenz und Rechtssicherheit sorgen soll.
Clara Bünger möchte indes von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) wissen, warum sie rechtem Druck nachgebe und „Rechtsbrüche zur Abwehr schutzsuchender Menschen in Kauf nimmt“. Drei Monate später hakt der Grüne Abgeordnete Julian Pahlke in einer Bundestagsanfrage nach. Er verlangt Informationen über das Ergebnis der Untersuchungen des BMI zu den Pushback-Vorwürfen. Daraufhin widerspricht das Ministerium den Angaben der Geflüchteten und besteht nach wie vor darauf, dass in den untersuchten Fällen keine „Asylabsicht“ erkennbar gewesen sei. Inzwischen vermeldet allein die Bundespolizei in Rosenheim Aufgriffe von über 700 Menschen im ersten Quartal 2023, wieder nahezu ausschließlich aus den wichtigsten Asylherkunftsländern. Und wieder hätten mehr als 60 % kein Asylgesuch geäußert, ergo das Land wieder verlassen müssen.
Doch warum werden die Rückschiebungen auf der anderen Seite von der österreichischen Polizei akzeptiert? Paul Eidenberger, Sprecher des Innenministeriums in Wien, sieht die Verantwortung allein in Deutschland, österreichische Behörden würden lediglich „entsprechend den EU-rechtlichen und innerstaatlich-gesetzlichen Bestimmungen für solche Fälle“ agieren. Die Vertreter:innen der Betroffenen, darunter Asylrechtsanwält:innen und NGOs, sind sich jedenfalls einig. Sie wollen nicht aufgeben und mit juristischen Mitteln gegen die Zurückweisungen vorgehen. Denn, so formuliert es Karl Kopp von Pro Asyl, „Stacheldraht und Mauern verändern das soziale Gefüge auch im Inneren, schränken ein und zerstören jedes Miteinander. Wir verteidigen hier die Fundamente Europas.“