Das Feministische Wiener Kaffeehaus
Barbara Philipp ◄
Am 26. Mai 2020, einem Tag, an dem wir hoffnungsvoll in den Sommer blickten ohne zu wissen, dass uns ein weiterer Lockdown im Herbst erwartete, war die Künstlerin Margret Wibmer zu Gast im Feministischen Wiener Kaffeehaus.
Margret Wibmer ist eine in Amsterdam lebende Künstlerin, die mit Performances, Fotografie, Video und Textilien arbeitet.
Angesprochen auf das Gefühl der Isolation im Lockdown, erzählte sie mir von ihrer Kindheit in der Bergregion Osttirols, die erst durch den Bau eines langen Tunnels mit der Welt verbunden wurde und sie aus der Stille holte. Die Welt kam zu ihr und weniger später trat Margret in die Welt hinaus, studierte in Wien Kunst und zog dann weiter nach New York. Mehrere Jahre lang lebte sie im Big Apple, arbeitete als freischaffende Künstlerin und war Assistentin im Atelier von Sol LeWitt.
Nach der Geburt ihrer Tochter beschloss sie als Künstlerin und alleinerziehende Mutter wieder nach Europa zurückzukehren und ließ sich 1990 in Amsterdam nieder, eine Stadt, die sie als offen genug empfand, um als Künstlerin und Mutter weiterhin arbeiten zu können.
Während unseres Gesprächs im Feministischen Kaffeehaus wurde deutlich, dass sich Wibmers künstlerische Wahrnehmung im Spannungsfeld zwischen isolierten Orten und lebendigen internationalen Städten formiert und die Entwicklung ihrer Performances, Skulpturen und fotografischen Arbeiten maßgeblich beeinflusst hat.
Die plötzliche Isolation während des Intelligenten Lockdowns in den Niederlanden1 erfuhr sie nicht als Einschränkung, sondern als Freiheit. Die Kunstproduktionmaschinerie mit langläufigen Abläufen, Kommunikationsabwicklungen und Veränderungen während des Prozesses kam zum Erliegen und verschaffte Margret Wibmer einen Freiraum, eine konzentrierte Zeit im Atelier, ohne abgelenkt sein zu müssen. Zeitgleich entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit den New Yorker Künstlern John D. Halpern und Emily Harris, Gründern des Institute for Cultural Activism International.
Nach einer ersten Kontaktaufnahme und einem regen Austausch über Soziale Medien fand ein Jahr später, im Mai 2021, trotz eines neuerlichen Lockdowns, ein physisches Arbeitstreffen hinter verschlossenen Türen im Café Central statt. Hier wurden die ersten Pläne für QR PORTAL ACTIVATION geschmiedet, eine gemeinsame Slow-Walk Performance, die in den herkömmlichen Rhythmus unserer Konsumgesellschaft eingreift, im Sommer 2022 auf Capri realisiert wurde und im Herbst im Oculus und in der Wall Street in New York City.
Dem Hamsterrad der Produktion durch den erzwungenen Stillstand der ersten Monate zu entkommen, bot manchen eine willkommene Leere, brachte aber auch jene prekären Arbeitsbedingungen ans Licht, die Künstler:innen allzuoft existentiell konfrontieren und bedrohen. Der erste Lockdown brachte einen Stillstand, den wir uns nicht ausgesucht hatten, sondern der uns passierte.
Auf den scheinbaren Stillstand der Zeit in einem Wiener Kaffeehaus geht man bewusst ein. Auch die Form des Feministischen Kaffeehauses als Zoom-Treffen war gewählt. Wir hätten uns auch in einem physischen Raum treffen können, unter Einhaltung der Social Distancing2 Regeln. Aber die Isolation war zu diesem Zeitpunkt immer noch unser bester Freund. Welche Sehnsucht hielt uns davon ab, uns wirklich zu treffen? Die Freude an der Leere?
Die unsichtbaren Mauern, die wir für unser Privatleben errichteten, spiegelten sich national durch geschlossene Grenzen und die Schwierigkeit, internationale Arbeitsprozesse zu koordinieren, die kurz davor noch wie selbstverständlich in Europa zwischen den Ländern möglich waren. Könnten wir zu einem früheren Zustand der Zusammenarbeit zurückkehren, zu dem Gefühl, ohne Grenzen zu arbeiten? Vom aktuellen Krieg in Europa nach der Pandemie hatten wir damals noch keine Ahnung.
Derzeit bereitet Wibmer eine Neuaufführung ihrer partizipativen Performance TIME OUT vor, die am 18. Juli im Rahmen einer größeren Veranstaltungsreihe in der Oude Kerk Amsterdam zu sehen ist. Wibmer lädt Besucher:innen ein, diese Kirche in einem nichtreligiösen Ritual über das Sinnliche zu erfahren. Indem sie den gesamten Kirchenraum in eine Art Inszenierung verwandelt, ermutigt sie uns, unserer eigene Anwesenheit und die Anwesenheit der anderen Menschen bewusster zu erfahren. Die ruhenden Körper auf dem Kirchenboden, gehüllt in von Wibmer gefertigte lange schwarze Mäntel mit übergroßen Kapuzen, verbinden das Hier und Jetzt mit Vergangenem und Zukünftigem in einer elastischen Zeitlichkeit.
(https://margretwibmer.eu/performances/time-out/)
Margret Wibmer nutzt Mehrdeutigkeit und das Prinzip des Zufalls als Methodik, um verinnerlichte Prozesse, Normen und Werte zu dekonstruieren, die tief in unserer Gesellschaft verankert sind und schafft vergängliche “Realitäten”, die neue Strategien erforschen, um uns mit der Welt und mit Anderen zu verbinden. In ihrer partizipativen Performance SALON D‘AMOUR die im Herbst 2023 auch als Publikation erscheinen wird, erforscht sie Liebe als transformative und subversive Kraft im Kontext einer polarisierten Welt. Sie bezieht das Publikum durch tragbare Requisiten und eine Sammlung von Gedichten, Liebesbriefen und Prosa ein − provokant, konfrontierend und poetisch. Das teilnehmende Publikum wird eingeladen einer Vielzahl von Stimmen zuzuhören und sich ohne Vorurteile auf sie einzulassen, um verschiedene Perspektiven, Subjektivitäten, Welten und Kulturen sowie ihre eigenen inneren Dimensionen zu erkunden.
(https://margretwibmer.eu/performances/salon-damour/)
“Als mother artist habe ich mich nicht nur um die Kunst gekümmert, , sondern auch um das Wohlbefinden meiner Tochter, die in vielen meiner Arbeiten als Protagonistin auftaucht.
Aus dem Balanceakt zwischen Sorgsamkeit und Ungewissheit haben sich für mich neue Einsichten eröffnet und Strategien entwickelt, die ich heute mit dem Publikum in Arbeiten wie ‚Time Out‘ und ‚Salon d’Amour‘ teile.”
Das Wiener Kaffeehaus, Episode 1- 10
ist ein Kunstprojekt und eine Rauminstallation, in der eine Serie von Gesprächen mit Künstlerinnen, Kuratorinnen, Aktivistinnen und Müttern während der ersten zwei Jahren der Pandemie, 2020–2022 stattgefunden hat.
Das Kaffeehaus ist für mich ein Sehnsuchtsort, ein Ort des Austauschs und des Sichsammelns, ein Nachhausekommens. Aus dem Gefühl des Verlustes heraus malte ich ein Kaffeehausinterieur, in das ich mich hineinprojizieren konnte und mit dem ich fortan arbeitete. Aber die menschlichen Stimmen fehlten! Einen Raum und eine Möglichkeit für feministische Künstlerinnen und Aktivistinnen zu kreieren, in denen es möglich ist, sich auszutauschen, kennenzulernen und über die künstlerische Arbeit und das Zeitgeschehen nachzudenken, war ein logischer weiterer Schritt. Ich wollte meinen Gästen und mir sowohl eine Plattform zur Präsentation von Arbeiten und Gedanken bieten als auch jene Veränderungen in Arbeitsbedingungen von Künstlerinnen mit und ohne Kinder dokumentieren, welche die Pandemie auslöste.
Der fiktive Raum erwachte durch diese Begegnungen zum Leben, wurde real.
Mehr Info unter: @feministviennesecoffeehouse
1 So wurde der erste Lockdown in den Niederlanden bezeichnet, meiner Interpretation nach sollte das eingefügten Adjektiv intelligent ein Bewusstsein der Eigenverantwortung mündiger Bürger vermitteln.
2 Diese Bezeichnung ist aus unserem aktuellen Wortschatz fast wieder verschwunden, war aber zu diesem Zeitpunkt in aller Munde. Während es dann in Österreich den “Babyelefantenabstand” gab, definierten die Niederländer den Eineinhalb Meter Sicherheitsabstand