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Gerhard Ruiss ◄
Der öffentliche Raum der Verkehrswege
Bis vor ein paar Jahrzehnten war der öffentliche Raum der freie Platz zwischen Bauten für Verkehrsflächen. Die Stadtautobahnen wurden die Boulevards des 20. und 21. Jahrhunderts. Eine nicht verwirklichte Stadtautobahn in der Wiener Westeinfahrt sollte bis zum Karlsplatz, an den Rand der Wiener Innenstadt reichen. Andere, in äußeren Bezirken und neugebauten Stadtteilen, wie zuletzt die mehrspurige „Stadtstraße“ in Wien, eine Schmalspurautobahn, werden weiterhin gebaut. Sie zerschneiden den öffentlichen Raum, wie früher Schnellstraßen Straßendörfer durchschnitten haben, die aus Orten Häuserzeilen links und rechts entlang der Straße gemacht haben und aus denen erst durch Umfahrungen wieder komplette Dörfer werden können.
Der öffentliche Raum der Klimatisierungen
Brunnen, Sprühnebelduschen, Wasserschiffchen, Bepflanzungen oder Deregulierungen von Flussuferverbauungen, die Klimatisierung hat den öffentlichen Raum erreicht. Im öffentlichen Raum soll man Erholung und Abkühlung finden. Begrünungen und Bepflanzungen sollen zur Beschattung und Verbesserung der Luftqualität dienen.
Der öffentliche Raum als letztes Rückzugsgebiet
Auch für Gärten und den Wald wurden in der Anfangszeit der Corona-Pandemie Betretungsverbote ausgesprochen. Wer in der Zeit der Untersagung von Versammlungen und Veranstaltungen etwas öffentlich zugänglich machen wollte, hatte nur die Möglichkeit, per Kundgebung oder Demonstration dazu einzuladen.
Der öffentliche Raum als Freiluftbühne
Schon vor der Corona-Pandemie durften unbezahlte U-Bahnkünstlerinnen und U-Bahnkünstler in U-Bahnstationen um ihnen in die Koffer ihrer Instrumente, Mützen und Hüte geworfene Münzen musizieren, seit der Corona-Pandemie können Kunst- und Kultureinrichtungen, wenn sie das dazu Geld aufbringen, um etwas auf die Beine zu stellen, den öffentlichen Raum bespielen. Sie können sich auf den Weg zum Publikum machen, das noch nicht zu ihnen zurückgefunden hat.
Der öffentliche Raum als Leerstand und für Zwischennutzungen
Zwischen der Räumung und der Abrissbirne befindet sich der Leerstand, nicht nur verlassene, sondern auch leergeräumte Geschäftslokale, die im Halbdunkel weiter vor sich hin existieren. Das Windowshoppen funktioniert mit ihnen noch, bis die Auslagenscheiben blind werden und die dort bei der Zwischennutzung gezeigten Objekte verstauben.
Der öffentliche Raum der Konsumzonen
Die Flussuferverbauungen des 20. und 21. Jahrhunderts sind die Lokalmeilen entlang von Fließgewässern, Altarmen und Entlastungsgerinnen. Neben den Lokalmeilen am Wasser bestehen noch die in den enger verbauten Stadtgebieten, aufgefädelt wie die Promenaden cafés in der Anfangszeit des Massentourismus entlang der Strandstraßen mit ihrem nie abreißenden Durchzugsverkehr. Dass auch jenseits dieser auffälligen Veränderungen des Straßenbilds eine Kommerzialisierung des öffentlichen Raums stattgefunden haben musste, konnte man erst durch die Bewerbung von schwer durchsetzbaren Bauten mit dem Argument, es würden bei ihrer Errichtung auch konsumfreie Zonen entstehen, bemerken.
Der öffentliche Raum als Sperrgebiet
Nach Angriffen auf amerikanische Einrichtungen in verschiedenen Ländern riegelte die amerikanische Botschaft in Wien die Straße an ihrem Sitz mitten in einem dichtbesiedelten Wohnbezirk mit einem viele Meter hohen Metallzaun dauerhaft ab. Man kann sich lediglich zu Fuß an der gegenüberliegenden Hauswand an der Botschaft vorbei drücken. Wer in die Botschaft muss, kann per Pass- und Taschenkontrolle die Grenze passieren und einreisen.
Der öffentliche Raum als Wartesaal
In den Corona-Pandemiejahren wurden die meisten Schanigärten nicht wieder weggeräumt, sie standen, nach den Schließungen der Lokale, auch im Winter als Möglichkeit zur Verfügung, um sich mit To go-Konsumationen wo aufhalten zu können. Ausreichend Sitzgelegenheiten gab es dadurch dennoch keine. Rund um Weihnachten und um Punschstände und um Lokale mit Mitnahmemöglichkeiten herum war kein einziges freies Fensterbrett in Sitzhöhe oder Abstellhöhe bzw. kein einziger freier Platz auf einem zugänglichen Stiegenaufgang in Wien zu bekommen.
Der öffentliche Raum der Raucherbereiche
Erste geänderte Bedeutungen erhielt der öffentliche Raum durch die Einrichtung von Fußgängerzonen und Spielstraßen. Neu belebt wurde dieser auf Freizeitverhalten und Einkaufserlebnisse ausgerichtete andere Umgang mit dem öffentlichen Raum durch die Rauchverbote in Lokalen. Wer rauchen wollte, konnte das in den Lokalbereichen vor den Lokalen tun und musste dazu nicht seinen Tisch mit seinen Bestellungen verlassen.
Der öffentliche Raum als militärische Sperrzone
Auf den mit Stacheldraht besetzten Mauern der in zumeist ehemaligen Stadtrandlagen, im Lauf der Zeit in Neubau- und Gewerbegebieten liegenden Kasernen in Südtiroler Städten wird mit alle paar Meter angebrachten Schildern davor gewarnt, dass es sich um militärisches Sperrgebiet handelt. Man kann von Bussen aus alles einsehen, es zu betreten ist verboten. Viele dieser Kasernen wurden in den letzten Jahren verkauft und Wohnhäuser auf den Kasernengeländen errichtet. Die Schilder auf den Kasernenmauern wurden abmontiert, die Mauern sind erhalten geblieben.
Der öffentliche Raum der Notschlafstellen
Wer nirgends unterkommt, auch nicht in Notschlafquartieren, sucht sich seinen Schlafplatz, wo er ihn bekommt. Unter Brücken: Es ist windig, aber man wird nicht nass, wenn es regnet. In Wartehäuschen: Es ist windstill, aber die Bänke sind so gebaut, dass man auf ihnen nicht liegen kann. In öffentlichen Toiletten, wenn sie weit weg genug vom Geschehen sind, so dass sie in der Nacht niemand nützt. In Selfbanking-Räumen, wo man zwar bei Licht lesen, aber nicht mehr als eindösen kann. In Wartebereichen in Bahnhöfen, aber man wird ständig kontrolliert.
Der öffentliche Raum der Parks und Spielplätze 1938
Als Ari Rath und David Paul Singer aus rassistischen Gründen das Betreten des Wiener Liechtensteinparks verboten wurde, erklärten sie eine Parkbank vor dem Liechtensteinpark zu ihrem neuen Spielplatz und gingen in ihren Parkbankpark spielen.
Der öffentliche Raum der Privatisierungen, Aufstockungen und Absiedlungen
Privatisierungen von vormals öffentlich zugänglichen Gebäuden und Aufstockungen verengen den öffentlichen Raum und führen zu einem größeren Verkehrszuzug. Gärten werden zu Privatgründen, deren Betreten untersagt wird. Absiedlungen finden zumeist in Stadtrandbereiche oder ins Umland statt und führen zu einer vermehrten Bodenversiegelung, einem größeren Verkehrsaufkommen und zur Verödung der vormals leichter mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbaren Plätze.
Der öffentliche Raum als Marktplatz
Die Jahrmärkte, in denen von Illusionen bis zum Einkauf von Vorräten alles zu haben war, bestehen in zahlreichen Varianten weiter, einige davon ständig, die meisten einmal pro Woche. Statt für Zauberkunststücke und Trickbetrügereien kann man sein Geld für händisch betriebe Fruchtsaftpressen ausgeben, mit denen man aus Äpfeln Apfelsaft herstellen können soll. Treffpunkte sind Märkte nur, wenn sie Themenmärkte sind. Sie sind für alle Beteiligten ein Geschäft, für die kommunalen Vermieter und anderen Eigentümer, für die Standmieter und die Besucherinnen und Besucher, die sich günstigere und besondere Angebote erwarten.
Der öffentliche Raum der Verhüttelungen
Den Vorwurf, die Politik der Österreichischen Bundeswirtschaftskammer des Billigbezugs von Erdgas und Erdöl aus Russland habe Österreich in die Energieabhängigkeit geführt, quittierte der Präsident der Österreichischen Bundeswirtschaftskammer damit, die Österreichischen Bundeswirtschaftskammer habe damit geholfen, den Traum der Österreicherinnen und Österreicher vom Einfamilienhaus zu erfüllen. Die Hügel im Hinterland der Côte d’Azur sind alle mit Ferien- und Einfamilienhäusern verbaut, die Grundstücksverkäufe waren ein schnelles Geschäft für die Gemeinden, die Infrastrukturkosten haben sie ruiniert.
Der öffentliche Raum als Freiraum
Für den öffentliche Raum in freier Gestaltung gibt es nur sehr wenig Platz. Er besteht aus freigegebenen Flächen für Graffiti-Malerei und gelegentlichen Freigaben für andere kulturelle Zwecke. Auch Kulturwerbeflächen sind nicht für Kultur frei zugängliche Flächen, sondern bezahlten Werbungen mit kleinformatigen Kulturplakaten vorbehalten.
Der öffentliche Raum für Literatur
Andere Texte als Aufschriften auf Firmenschildern und Firmenwerbungen mit Leuchtreklamen, topographische Angaben, legale und nicht legale politische Losungen und Werbebotschaften auf Plakaten sowie Graffiti-Beschriftungen sind im öffentlichen Raum nur in Einzelfällen zu finden. Lufthoheit über den öffentlichen Raum haben Produktwerbungen und politische Werbungen, Konsumaufforderungen und Wahlempfehlungen. Die wenigen Ausnahmen sind schwer erkämpft und selten von Dauer. Sie können daher gar nicht genug hervorgehoben werden, wie der Literaturbahnhof Feldkirch, in dem die Namen zahlreicher Autorinnen und Autoren an den Wänden und mit literarischen Beispielen in den Monitoren zu finden sind oder die Grazer Wandzeitung „ausreisser“, die so viele Wände mit ihren jetzt schon 100 Ausgaben bespielt, wie sie nur schafft.
Der öffentliche Raum für neue Projekte
Neue literarische Projekte im öffentlichen Raum gibt es nur wenige. Im Moment kämpft der Wiener Autor Daniel Böswirth um einen ständigen Platz in Wien für sein Projekt „Eine Stadt schreibt Gedichte“. Ihm sollte man für sein Projekt nicht nur Glück wünschen, sondern, wie auch den anderen Projekten, aus denen etwas werden sollte, zur Durchsetzung seines Projekts nach Kräften Beistand zukommen lassen.