Interview mit Susanne Scholl ◄
Susanne Scholl, langjährige Moskau-Korrespondentin des ORF, promovierte Slawistin, Autorin und Mitgründerin der Omas gegen Rechts im Interview mit Evelyn Schalk über Krisenberichterstattung, die Macht der Sprache und die Bedeutung von Zivilgesellschaft.
Evelyn Schalk: Frau Scholl, hätten Sie letzten Februar einen Überfall Putins auf die Ukraine, diesen totalen Kriegsbeginn, für möglich gehalten?
Susanne Scholl: Ich war ehrlich gesagt schon überrascht, denn ich hätte erwartet, dass Putin noch länger auf seine Zermürbungstaktik setzt. Andererseits hat der Krieg ja schon viel früher, nämlich 2014, begonnen. Das hat hier aber niemand interessiert. Wir haben weggeschaut, so nach dem Motto: Wir wollten nicht wissen, dass in Luhansk und Donetsk echte Verbrecher an die Macht gekommen sind, wir wollten das nicht wahrhaben.
Müssen sich da Medien nicht auch in die Verantwortung nehmen, zu wenig oder zu oberflächliches Augenmerk auf diesen Krieg gelegt zu haben?
In den Redaktionen in Wien stehen sie auf dem Standpunkt, dass der Großteil dessen, was im Ausland stattfindet, die Zuseher/hörer*innen bzw. Leser*innen nicht interessiert. Daher läuft die Außenpolitik – mit wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel der Sturm aufs Kapitol in Washington oder eben jetzt die Ukraine – unter ferner liefen. Es gelten immer noch die merkwürdigen Kriterien: groß ist groß und klein ist klein. Journalist*innen können seit vielen Jahren keine wirklichen Entwicklungen mehr verfolgen, weil das Interesse an gewissen Dingen so rasch nachlässt.
Eine Spirale – fehlendes Interesse einerseits, folglich nachlassende Berichterstattung, die noch weniger Wissen vermittelt …
Die Spirale drehen aber vor allem jene Leute, in deren Hand die Medien sind.
… und das sind gerade in Österreich nur einige wenige …
Ja, genau. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Österreich eine fantastische Presselandschaft, danach hat sie sich nicht wieder erholt.
Das war doch ursprünglich das Ziel der Presseförderung …
Es ist den Menschen nicht klarzumachen, dass, wenn man eine Zeitung oder einen Radio/Fernsehsender finanziert, ihnen das Geld, das sie da investieren, nicht das Recht gibt, die Berichterstattung zu beeinflusse. Das habe ich genau so in Russland erlebt. Umgekehrt ist aber auch nicht jeder Financier einer, der die Linie vorgibt, sondern dessen Ziel freie Presse ist.
Presse muss jedenfalls finanziert werden und das kann nur funktionieren, wenn es eine vernünftige Presseförderung vom Staat gibt, und zwar ohne Korruption.
Dieser Mangel hat sich auch in der Ukraine-Berichterstattung gezeigt – ich hatte, vor allem zu Beginn, den Eindruck, als hätte sich ein Hebel umgelegt, der uralten Rollenmustern, Klischees und beinah eine Kriegsbegeisterung in manchen Kommentaren freien Lauf ließ. Haben Sie das auch so wahrgenommen?
Ja, natürlich. Das ist aber ein ORF-Spezifikum, weil die eben einen Einzigen haben, der aus der Ukraine berichtet und an dem halten sie fest. Wo er politisch steht, war immer klar.
… und er lässt sich als großer Held feiern …
… obwohl er immer sehr bemüht ist, möglichst weit hinter den Linien fernab des Geschehens zu bleiben. Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist kein Vorwurf, ich würde mich auch nicht an die vorderste Front stellen, aber ich behaupte im Gegensatz zu ihm auch nicht, die große Kriegsreporterin zu sein. Im Gegenteil, wenn es nach mir ginge, bräuchte man eigentlich nur eine einzige Kriegsgeschichte erzählen, und zwar, dass Krieg unnötig und blöd ist. Dann kann man die Hintergründe usw. analysieren.
Aber Kriegsreporter*innen haben die Aufgabe, Zeug*innen des Geschehens zu sein. Wenn niemand vor Ort ist, überlässt man das Feld, auch und gerade an der Front, der Propaganda.
Ja, selbstverständlich. Es geht nur nicht darum, jeden Tag Bomben, Granaten und Tote zu zählen. Aber man muss unbedingt dorthin gehen, wo etwas passiert und Menschen betroffen sind. Warum zum Beispiel habe ich den betreffenden ORF-Korrespondenten gerade in den ersten Wochen nie aus den Bunkern von Kyiv berichten sehen, wo sich Menschen wochenlang vor den Bomben versteckten? Warum war er nicht da? Bei deutschen Kolleg*innen war und ist das ganz anders.
Umgekehrt waren die österreichischen Korrespondenten etwa beim Putsch 1991 auf weiter Flur die einzigen, die vor Ort waren und live berichteten, da waren sowohl die Deutschen als auch die Schweizer Kolleg*innen in Urlaub. Aber das ging eben, weil wir ein gut funktionierendes Büro in Moskau hatten.
Seither wurde die Zahl der Auslandskorrespondent*innen und -büros aufgrund von Einsparungen erheblich reduziert …
Ja, das hängt mit den politischen Entwicklungen zusammen. Ich weiss, viele Linke hören das jetzt nicht gern, aber als Bacher Generalintendant war, hatte Außenpolitik einen anderen Stellenwert. Er hatte zwar von vielem wenig Ahnung, hat aber unsere Innung sehr bewundert, Leute die die Sprache konnten und die Welt als Ganzes ansahen.
Wie wichtig sind für Sie Sprachkenntnisse von Korrespondent*innen?
Ganz zentral! Sprache sollte eines der wichtigsten Kriterien bei der Auswahl von Auslandskorrespondent*innen sein. Ich habe das bei meinen amerikanischen Kollegen gesehen, die immer auf Dolmetscher*innen angewiesen waren. Im Gegensatz zu ihnen haben die Leute mit mir ganz anders geredet. Aber ich muss auch sagen, der ORF hat für Korrespondent*innen auch Sprachkurse angeboten, das war sehr in Ordnung.
Wie sieht es mit sprachlichem Bewusstsein, gerade in der Krisenberichterstattung aus?
Sprachliches Bewusstsein existiert eher nicht. Ich kann nicht mehr hören, wie die längste Zeit von Flüchtlingen versus Migranten geredet wird. Ich komme aus einer Familie, die vor den Nazis geflohen ist. Damals waren wir weder das eine noch das andere, sondern alle wurden Emigranten genannt, obwohl sie flohen. Also, auf der Flucht sind alle. Dieser permanente Versuch, Menschen in Kategorien einzuteilen, ist krankhaft. Ich ab so viele Jahre lang verzweifelt gegen das Wort „Asylanten“ gekämpft und es kommt bis heute immer noch. Wenn ich das höre, schreie ich ganz laut, ich krieg Hautausschlag davon. Aber die Leute verwenden das völlig kritiklos.
Eigentlich sollte man doch meinen, dass sich das heute, wo mehr denn je über Sprache geredet wird und wissenschaftlich belegt ist, was Sprache, Wortwahl etc. bedeuten, endlich geändert hätte …
Nein, denn es hält sich niemand daran! Es wird einfach ignoriert. Man müsste noch viel mehr über den Gebrauch der Sprache diskutieren. Sprache ist ein Instrument. Sie kann eine Waffe sein, eine sehr gefährliche. In Österreich haben wir sowieso keinen öffentlichen Diskurs. Ich finde es auch ungeheuerlich, dass diejenigen, die aus der Ukraine fliehen, Vertriebene, also gewissermaßen „andere“ Flüchtlinge, genannt werden. Ich finde es empörend, das man solche Unterschiede macht.
Die Unterschiede betreffen dann eben nicht nur die Sprache, sondern auch die Behandlung. Im Gegensatz zu Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan u.a. hat Österreich und Europa seine Grenzen für die fliehenden Menschen aus der Ukraine ja vorbildlich schnell geöffnet. Aber bei der Versorgung zeigen sich nach und nach wieder grobe Missstände …
Man hat gedacht, die Menschen gehen bald wieder. Das ist doch eine Illusion. Auch dieser Begriff „mit Migrationshintergrund“ ist so eine Idiotie. Im Spaß könnte ich auch sagen, mein Kater, den ich aus Moskau mitgebracht hatte, war ein Kater mit Migrationshintergrund. Meine Eltern kamen aus der Bukowina, aus Galizien, ich könnte auch von mir behaupten, ich hätte Migrationshintergrund. Das ist nur politisches Kleingeld, das man mit solchen Begriffen macht. Genauso in Bezug auf 2015. Da hat die Zivilgesellschaft etwas übernommen, was von Amtswegen der Staat hätte leisten müssen. Ohne die Zivilgesellschaft hätte 2015 nichts funktioniert. Aber jetzt wird genau das von der Politik schlechtgeredet und gesagt, das dürfe sich nicht wiederholen. Es ist so perfide.
Ich arbeite einmal die Woche bei der Lebensmittelausgabe der Caritas – nicht weil ich katholisch wäre, ich bin Jüdin – sondern wegen meiner Russisch-Kenntnisse. Es kommen vor allem Ukrainer*innen und ich höre dauernd Geschichten von Leuten, die aus ihren Unterkünften rausmüssen, die nicht wissen wohin, die mit medizinischen Problemen von einem Arzt zum anderen geschickt werden und keiner hilft ihnen. Die Lebensmittelausgabe, auch Kleider und Spielsachen, ist rein von Spenden abhängig und es sind viel zu wenig, denn immer mehr Menschen kommen, weil sie nicht mehr weiterwissen. Es gibt ein Mittagessen und Kaffee und Kuchen, das wird stark frequentiert, es reicht aber nicht annähernd. Es ist einfach skandalös, was sich die Republik da leistet.
Sie sagen, Politiker*innen, aber auch andere dachten, der Krieg würde nicht lange dauern und sie haben sich gründlich geirrt. Hat man zu Beginn falsch reagiert? Wie ist Ihre Prognose aus heutiger Sicht?
Dieser Krieg kann nur aufhören, wenn man Putin zwingt, freiwillig wird er ihn nicht stoppen. Das haben wir schon bei Tschetschenien gesagt. Man muss die Ukraine massivst unterstützen und zwar permanent. Ich bin eine absolute Kriegsgegnerin, aber es gibt Kriege, die geführt werden müssen. Dieser Krieg ist ein solcher. Wenn man zulässt, dass die Ukraine überrollt wird, kommt auf Europa früher oder später ein viel schlimmer Krieg zu. Diktatoren muss man aufhalten.
Das wollen aber viele so nicht sehen …
Die Leute wissen auch viel zu wenig über die Ukraine, ihre Geschichte. Die Tatsache des Holodomor, diese bewusst herbeigeführte Hungersnot in den 1930ern, weil man die Bauern in die Kollektivwirtschaft zwingen wollte, ihnen das Saatgut weggenommen hat und Millionen verhungerten, ist in der Ukraine im kollektiven Gedächtnis geblieben. Andererseits ist die Beteiligung vieler Ukrainer am Holocaust, überhaupt nicht ins kollektive Bewusstsein eingeprägt, wer daran erinnert, wird heute sofort mit Putin gleichgesetzt. Geschichtsaufarbeitung findet weder in Russland noch in der Ukraine statt. Aber die Ukraine bemüht sich seit dem Ende der Sowjetunion mit großer Anstrengung und vielen Rückschlägen, um Demokratie. Das muss man anerkennen. Das Land ist seit acht Jahren im Krieg und hat es dennoch geschafft, demokratische Wahlen durchzuführen, das ist bewundernswert.
Wie geht es mit den von Ihnen mitgegründeten Omas gegen Rechts weiter? Ihr seid ja nach wie vor sehr präsent, u.a. mit einer täglichen (!) Mahnwache vor dem Bundeskanzleramt, um die menschenwürdige Behandlung von Geflüchteten zu fordern.
Ich sage, solange sich nichts ändert, können wir nicht aufhören. Ja, da regen sich manchmal auch andere Stimmen, die sich fragen, ob es nicht langsam reicht. Aber was sollen wir tun? Mir fällt nur ein, laut zu schreien, immer wieder, und nicht wegzuschauen! Denn die, die es betrifft, können auch nicht wegschauen. Ich komme aus einer Familie, die erlebt hat, wie es ist, wenn alle wegschauen. Meine vier Großeltern wurden von den Nazis ermordet. Und ja, ich denke oft, wenn die Alliierten Auschwitz früher bombardiert hätten, dann hätte meine Großmutter dort womöglich überlebt. Ich war auch für die NATO Bombardements von Belgrad – wären sie früher gekommen, wäre Srebrenica vielleicht nicht passiert.
Das Skandalöseste an der aktuellen Berichterstattung ist ja die Sorge, dass es im Winter kalt ist, dass wir keinen Strom haben. Im Ernst? Das ist uns am wichtigsten? Und wie viele österreichische Firmen machen noch immer in und mit Russland Geschäfte? Wie viele verdienen an diesem Krieg? Deshalb kann ich nur immer wieder sagen, bei den Omas, als Zivilgesellschaft: Auch wenn uns niemand zuhört, werden wir solange laut sein, bis sie uns zuhören müssen!