care aus der perspektive der vulnerabilität betrachtet

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Ingrid Enge ◄

Care – warum gerade jetzt?

Wenn ich an Care denke, daran, was es bedeutet, für sich und andere Sorge zu tragen, dann fällt mir als Erstes dazu ein, wie verletzlich wir Menschen doch sind. Wir sind vulnerable Wesen, von Geburt an und mehr oder weniger über das ganze Leben hindurch. Martin Schnell beschreibt diese unhintergehbare Vulnerabilität: „Vulnerabilität bezeichnet eine grundsätzliche Verletzlichkeit, die alle leiblichen Wesen bestimmt. Ich erfahre die Anderen und die Welt, indem sie mir widerfahren. Darin liegt eine Vulnerabilität, die nicht aufzuheben ist. Vulnerabilität ist eine Universalie, die der Differenz von Krankheit und Gesundheit vorausgeht“ (Schnell, Martin W. (2020). Das Ethische und das Politische. Sozialphilosophie am Leitfaden der Vulnerabilität. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S.137).

Wir sind vulnerable Wesen, von Geburt an und mehr oder weniger über das ganze Leben hindurch.

Diese Vulnerabilität als grundlegende allgemeine menschliche Kondition ist der Ausgangspunkt für Ansätze einer Care-Ethik von Elisabeth Conradi (Conradi, Elisabeth (2001). Take care: Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Frankfurt: Campus) und Christa Schnabl (Schnabl, Christa (2005). Gerecht sorgen: Grundlagen einer sozialethischen Theorie der Fürsorge. Freiburg: Herder). Beide Autorinnen betonen, dass Care zwei Elemente enthält, einerseits Care als Haltung bzw. als Bezogenheit der Menschen aufeinander und Care als Tätigkeit bzw. als Aktivität der Fürsorge. Conradi betont als zentrales Merkmal einer angewandten Care-Ethik die Achtsamkeit anderen Menschen gegenüber, die nicht an Reziprozität gebunden ist (vgl. Conradi 2001, S. 56). Schnabl betont die Relevanz von Fürsorge nicht nur für Individuen, sondern auch für die Gesellschaft und erläutert: „Unter Fürsorge wird ein interaktives Handeln bzw. ein zwischenmenschliches Tun verstanden, das die unabweisbare Abhängigkeit und Verletzbarkeit von Menschen anerkennt und prima facie einseitig, asymmetrisch auf das Wohlergehen anderer ausgerichtet ist“ (Schnabl 2005, S.59). Beide Autorinnen stimmen darin überein, dass Care als Tätigkeit zwar nicht immer symmetrisch ausgeübt werden kann, jeder Mensch jedoch im Laufe seines Lebens sowohl EmpfängerIn als auch GeberIn von Care ist. Conradi und Schnabl vertreten eine Ethik, die die unhintergehbare Vulnerabilität des Menschen als wesentliches Element in den Beziehungen der Menschen zueinander sieht.

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Doch ist das der einzige Bereich, in dem wir mit Vulnerabilität konfrontiert sind?

Es gibt an der Außenfassade des Grazer Doms das 1485 entstandene, sogenannte „Landplagenbild“ , in dem die drei großen Bedrohungen der damaligen Zeit (die Pest, der Türkeneinfall und die Heuschrecken) dargestellt sind. Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und Klimawandel als aktuelle Bedrohungen führen uns heute sehr drastisch vor Augen, wenn wir es denn sehen wollen, dass der einzelne Mensch, die Gemeinschaft und der Planet allesamt vulnerabel und in ihrer Existenz bedroht sind. Selbst-, Fremd- und Weltbezug sind betroffen und das weist darauf hin, dass Care mit den Elementen der Haltung und der Handlung sowohl die einzelnen Menschen betrifft als auch die gesellschaftlichen und politischen Strukturen. Mit Joan C. Tronto (Tronto, Joan C. (2015). Who Cares? Ithaca und London: Cornell University Press, S.1) lässt sich dazu sagen: „These two worlds are deeply intertwined, and even more so in a democracy. Only at the expense of our democracy do we underestimate their interdependence. And we need to rethink this relationship if democracy is to continue”.

Die Frage, die ich zu Beginn gestellt habe, kann deshalb nur so beantwortet werden: Care, wann, wenn nicht jetzt!

Conradi, Elisabeth (2001). Take care: Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Frankfurt: Campus.
„Landplagenbild“ (2022). https://de.wikipedia.org/wiki/Landplagenbild.
Schnabl, Christa (2005). Gerecht sorgen: Grundlagen einer sozialethischen Theorie der Fürsorge. Freiburg: Herder.
Schnell, Martin W. (2020). Das Ethische und das Politische. Sozialphilosophie am Leitfaden der Vulnerabilität. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Tronto, Joan C. (2015). Who Cares? Ithaca und London: Cornell University Press.