der mensch raman burak

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Alhierd Bacharevič

Aus: Апошняя кніга пана А. (Das letzte Buch des Herrn A.), 2020

Das Erste, was Inga und ich verabredeten, als wir einander gegenübersaßen, war: Es wird auf jeden Fall ein Mann.

Ehrlich gesagt, hatte ich mit Widerstand gerechnet. Gewaltsamem, mit Einsatz verbotener Mittel. Inga machte von Beginn an nicht den Eindruck, als könne man leicht mit ihr übereinkommen. Ich kannte solche wie sie, die eine graue Müdigkeit erzeugen, noch bevor sie den Mund öffnen. Ihr Mund war breit, einigermaßen schön und boshaft, und ich war sicher, dass er voller Fragen, Zweifel und schon lang formulierter Beleidigungen war. Warum sie ihr gerade mich, einen vierzigjährigen, weißen, heterosexuellen Mann zugeteilt hatten, obwohl ihr eigentlich versprochen worden war, allein am Projekt arbeiten zu können? Warum sollten wir zusammen in einem Büro sitzen? Brauche ich eine Sekretärin? Warum hatte ich überhaupt beschlossen, mich mit so einer delikaten Angelegenheit zu befassen? Und warum unbedingt ein Mann? Alles, was du diesen Verrückten sagst, selbst noch so feinfühlig formuliert, verstehen sie als Belehrung. Selbst wenn du sie bittest, das Fenster zu schließen, weil es von draußen zieht, schauen sie dich an, als wollten sie gleich die Scheibe mit der Faust einschlagen.

Inga aber schwieg. Sie hatte wohl Angst, dass man mir das Projekt übertragen würde, falls sie Stress machte. Denn die Zeit lief.

Ich war darauf vorbereitet, für die Festlegung des Geschlechts wenigstens ein paar Tage zu vergeuden, ich hatte einen Termin für das Auspendeln im Kalender stehen, ich war bereit für all diese Leiern von „Gender“, „Gleichberechtigung“, „Patriarchat“, würde geduldig und skeptisch lächeln und ihr schließlich in etwas Kleinem beigeben, damit sie dem Grundsätzlichen zustimmte.

Es musste ein Mann sein, da die Idee niemand anders ausführen konnte, als ein Mann. Und sogar Inga verstand, dass ein Streit hier sinnlos war.

„Ein Mann“, sagte ich sanft. „Welche Männernamen gefallen Ihnen, Inga?“

„Ehrlich? Gar keine. Können Sie selbst aussuchen.“

„Ich habe schon einen. Aber vielleicht…“

„Schicken Sie’s mir per Mail.“

„Er könnte…“

„Schicken Sie’s mir per Mail, ich schau’s mir an.“

Ich seufzte und schickte ihr eine Nachricht. In der Nachricht standen nur drei Wörter.

Raman Aljaxandrawitsch Burak.

Sie antwortete nicht. Ich schaute fragend zu ihrem Kopf, der halb vom Notebook verdeckt war, ihre Augen waren nicht zu sehen, nur ein metallgesäumtes Ohr. Die metallenen Ohrringe wippten im Takt ihrer energischen Bewegungen. Sie nickte nicht einmal, sie arbeitete schon, zeigte mir mit ihrem Gesichtsausdruck unmissverständlich, dass ihr das alles nicht gefiel, aber nichts zu machen war. Ich schaute sie an und dachte, dass sie hier absolut überflüssig war. Ich konnte noch nie im Team arbeiten. Ich würde viel lieber alles allein machen.

Raman Aljaxandrawitsch Burak. Ich hatte einen ganzen Tag gebraucht, um mir diesen Namen auszudenken, ich hatte ihn festgelegt, noch bevor sie mich mit Inga bekanntgemacht hatten, noch bevor sie mich für diese seltsame Arbeit eingeteilt hatten, die mich, immerhin, vor einem Haufen Probleme rettete. Inga, Inga… Sie könnte die Schärfe würdigen – und dabei die Bescheidenheit meines Vorschlags. Raman Burak. Ein gewöhnlicher Name eines gewöhnlichen Menschen, und doch – einmal gehört, vergisst du ihn nicht. Und er schreibt sich gut in lateinischer Schrift.

„Inga, haben Sie meine Nachricht erhalten?“

„Ich arbeite.“

„Woran?“

„Na, er hatte doch eine Mutter?“

„Sie könnten wenigstens nicken, Inga, ich muss doch wissen…“

„Ich habe genickt. Ich kann nicht eine halbe Stunde lang nicken. Checken Sie Ihren Posteingang.“

Ich checkte. Und tatsächlich. „Swjatlana Wasiljeuna Burak, geborene Slawina”, hatte Inga geschrieben. Würden wir so für die nächsten Monate arbeiten? Ich wollte ihr sagen, dass das so nicht geht, beschloss dann aber, das Gespräch aufzuschieben. Schließlich hatte sie den Mann akzeptiert. Nicht alles auf einmal, dachte ich. Wird schon werden.

Inga hatte diese Schreibkurse absolviert, die in letzter Zeit bei uns aus dem Boden schießen wie billige Friseursalons, eine Privatschule, an der ambitionierte literarische Loser naiven Idealisten beibringen, zu kürzen und zu korrigieren, rauszuwerfen und auszudünnen, kurz: die eigenen Texte einzudampfen, zusammenzustreichen, alles Unnütze wegzufegen. Aus irgendeinem Grund nahm man dort an, dass dies die zentrale Fähigkeit sei, die ein Literat zu beherrschen habe, und hämmerte diesen Unsinn in die Köpfe der Schüler. Komplexfrei kastrieren – so könnte man ihr schöpferisches Credo subsumieren. Daher erwartete ich von Inga nicht eben viel.

Kurzum, irgendwie begannen Inga und ich mit dem Projekt. Wir wussten beide, dass Eile geboten war. Unsere Plätze hätten auch ganz andere einnehmen können. Hätte die Projektleitung bemerkt, dass unser Konflikt die Arbeit bremste, hätte sie ohne Zweifel nicht lange gefackelt. Und Raman Burak wäre Geschichte. Er wäre ein anderer Mensch. Ein ganz anderer.

Ich wusste, dass Inga unsere Arbeit ebenso bewegte wie mich. Sie gab es nicht zu, aber die Aufgabe, die vor uns lag, konnte einen nicht unbewegt lassen. Das Gefühl, dass uns in diesen Tagen beherrschte, war mit nichts vergleichbar. Du sitzt im Büro und schreibst. Du schreibst das erste, was dir in den Kopf kommt, denn die Zeit ist knapp. Und irgendwo in der Ferne, in einem unterirdischen Werk, sitzen Menschen und lesen deine Texte. Diese Menschen lesen so aufmerksam, wie niemand sonst in unserer rauen Welt. Sie lesen und erteilen Anordnungen. Die Anordnungen werden an das Laboratorium weitergegeben. Und das, was Inga und ich schreiben, wird Wirklichkeit. Auf einem großen Tisch, umgeben von Menschen in weißen Kitteln, liegt ein Wesen namens Raman Burak. Raman Burak schläft. Er existiert und existiert doch nicht. Er bereitet sich auf die Existenz vor. Er bereitet sich auf die Ruhmestat vor, ohne es zu wissen. Er bereitet sich vor zu leben – und im Namen der Freiheit zu sterben.

„Einmal rief der Vater Raman Burak von der Datsche aus an und bat ihn zu kommen, um das Dach zu reparieren, das an den Rändern kürzlich von einem Julisturm angekratzt worden war. Raman Burak stand auf einer wackeligen Leiter, hielt mit einer Hand einen Hammer an der Kehle und griff mit der anderen nach der zerbrochenen, sonnenwarmen Schieferplatte. Der schwere Kopf des Hammers schaute zwischen seinen Fingern hervor, als hätte er dort, auf dem Dach, einen Raubvogel gefangen und würde ihn nun würgen, würgen – er, der furchtbare, unbeholfene Mensch mit dem Nagel zwischen den zusammengepressten Lippen… Raman Burak spürte, wie die Leiter unter seinen Füßen wegbrach…“

Solchen Unfug schrieb ich, während ich immer wieder zu Inga schaute, die am Nachbarschreibtisch versunken in die Tasten schlug. Ich schrieb ohne nachzudenken, denken sollten die Menschen im Laboratorium, dank deren Anstrengungen Raman Burak auf dem großen Tisch Stunden später neue Eigenschaften, Kenntnisse, Gewohnheiten und Erinnerungen erhalten sollte. Ich schrieb, während im Laboratorium aufmerksam gelesen und Anordnungen erteilt wurden, und auf Raman Buraks Scheitel erschien eine alte Narbe vom Sturz aus drei Metern Höhe, und Raman Buraks Hände erhielten die Fähigkeit mit dem Hammer umzugehen „niedriger als durchschnittlich“ (4 auf einer 10-Punkte-Skala), und Raman Buraks Mund und Zunge erinnerten sich an den Geschmack des kalten Nagels, und in Raman Buraks Gedächtnis manifestierten sich die Erinnerungen vom Vater auf der anderen Seite des Daches, das Bild des gewürgten Vogels, die Erinnerung an die Sonne, die einfach ins Gesicht schien, an die Mutter, die unten stand und entsetzt aufschrie, ohne sein Fallen aufhalten zu können… Er überlebte, musste nur am Kopf genäht werden – und in Raman Buraks Kopf, direkt ins Gehirn, tröpfelte die von einem Spezialprogramm deformierte Information von der Notärztin, die ewig brauchte, um die elterliche Datsche zu finden…

In den Pausen zwischendurch las ich, was Inga geschrieben hatte – ich musste das lesen, um ihren Texten nicht zu widersprechen, sie zu ergänzen, und sie in meinen Notizen über Raman Burak zu berücksichtigen. Sie schrieb viel bündiger, und ich dachte gereizt, wie man sich im Laboratorium wohl über ihre Texte freute, da das benötigte Material aus ihren Texten bedeutend leichter zu extrahieren war.

Ich beneidete sie. Aber ich konnte mir nicht erlauben so zu schreiben wie sie. Ich hatte Stil. Sie hatte Schreibkurse absolviert.

„Raman Burak ist von der Arbeit heimgekommen. Er schaut einen Porno auf dem alten Computer, die rechte Hand unter dem Tisch versteckt. Mit der linken Hand greift er von Zeit zu Zeit nach der Bierflasche, nippt daran und rülpst laut. Er will das Video lauter stellen, hat aber Angst, dass die Nachbarn nebenan hören, was er macht. Raman Burak trinkt das Bier aus und geht mit aufgeknöpfter, fettig glänzender Hose in die Küche. Er nimmt noch eine Flasche aus dem Kühlschrank. Im Kühlschrank liegen die Reste des Mittagessens von McDonald’s vom Vortag, nichts weiter. Nur der halboffene braune Pappkarton im obersten Fach, aus dem kalte Pommes ragen. Raman Burak holt die fettigen, schmierigen Fritten eine nach der anderen heraus und frisst sie, die Hände wischt er an den Hosenbeinen ab…“

Im Laboratorium mögen sie solche simplen Fakten. Raman Burak bekommt einen verstimmten Magen und eine Darmerkrankung, ein bisschen Mysogynie (6,5 Punkte auf einer 10er-Skala), eine ungesunde Libido, ein paar Phobien, ein recht hohes Alkoholismuslevel (7,5). Raman Buraks Sexualrezeptoren erhalten als Belohnung ein paar Lieblingsreize. Raman Buraks Bewusstsein füllt sich mit Angst vor den Nachbarn und ein paar Komplexen, wie ein Ballon mit Luft.

All das, geschrieben von der unbändigen Inga, harmoniert vorzüglich mit der Arbeit der Psychologen, die eine Etage unter uns sitzen und zur Aufgabe haben, auf Basis unserer prosaischen Übungen Raman Buraks psychisches System zu formieren. Im Übrigen dürfen wir sogar manchmal in Reimen schreiben. Raman Burak mag die Poesie nicht sonderlich, aber ohne Poesie gelingt es kaum, eine menschliche Person zu beschreiben. Der Leitung ist es egal, wie Raman Burak wird. Seine Ruhmestat wird alle umhauen. Swjatlana Burak (geborene Slawina) und Aljaxandar Burak wären schockiert über die Tat ihres Sohnes. Doch sie liegen längst im Grab. Mit dem Grab hat sich ein anderes Labor beschäftigt, von dem ich nichts wusste. Wir hatten keinen Zugang zu dieser Information.

„Fürchtet das Chaos nicht“, sagte uns die Projektleitung. „Ohne Chaos kein Mensch. Euer Schützling kann ruhig widersprüchlich, kompliziert, unvorhersehbar und unverständlich sein. Umso mehr Leben wird in ihm stecken. Und umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass niemand die Wahrheit herausfindet, wenn alles endet.“

Also hielten Inga und ich uns nicht zurück. Raman Burak wurde mit jeder Minute komplexer. Raman Burak vervollkommnete sich und begann, einfache Muster zu durchbrechen. Um Raman Burak wuchs ein Geflecht von Krankheiten, Narben, Malen, Flecken, Geheimnissen, Erinnerungen, haptischen Halluzinationen, Träumen, verbotenen Wünschen, Rezeptoren, Schmerzen und Genüssen…

Der Mensch, den wir erdachten, war empfindsamer Natur.

Inga tat alles, um diese Empfindsamkeit auf die Ebene des Bösen und Selbstzerstörerischen zu transferieren. Sie schien es mir nun heimzahlen zu wollen, dafür, dass sie zu Beginn zugestimmt hatte, dass unser Objekt ein Mann werden solle. Ihr Raman Burak trank, hatte schmutzige Phantasien, mochte Frauen nicht und behauptete sich immer wieder in der Rolle des aggressiven Männchens. Ihr Raman Burak träumte davon, irgendjemanden zu töten.

Mein Raman Burak war ein feinsinniger, im Wesen guter Mensch, unbeholfen und leichtgläubig, naiv und träumerisch. Im Privaten hatte er kein Glück. Seine Jugend verflog wie im Schlaf. Mein Raman Burak hatte etwas Ähnlichkeit mit mir.

Ingas Raman Burak hatte Ähnlichkeit mit… Nun, vielleicht mit ihrem ehemaligen Liebhaber oder Ehemann. Ich weiß es nicht, wir haben nie darüber gesprochen.

Das Projekt wurde mit einem Monat Verzug beendet. Annehmbares Ergebnis, sagte die Leitung, wir hatten damit gerechnet, euch noch ein Jahr mehr geben zu müssen.

Irgendwo in der Ferne, im Laboratorium des unterirdischen Werkes, lag auf dem großen Tisch der Mensch Raman Burak. Er existierte bereits. Denn um ihn herum existierte die Welt, die auch die Welt des Raman Burak war.

Raman Burak hatte sich vom Tisch erhoben und war ans Fenster getreten.

Er wusste, dass er nicht in der Heimat war. Aber er wollte dorthin zurückkehren. Er fühlte sich schlecht. Raman Burak trat zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Bier heraus. Hinter ihm erschien ein Mensch in weißem Kittel.

„Bin ich im Krankenhaus?“ fragte der Mensch Raman Burak.

„Ja“, antwortete ihm der Mensch im weißen Kittel. „Sie sind ein Tourist. Sie sind mit Touristenvisum in unser Land gekommen. Sie hatten einen Unfall, aber alles ist gut ausgegangen. Ein kleiner Gedächtnisverlust, sonst nichts. Die Versicherung hat alles bezahlt. Erinnern Sie sich, aus welchem Land Sie kommen?“

Raman Burak nannte das Land.

„Richtig“, sagte der Arzt. „Wie heißen Sie?“

„Raman Burak“, sagte Raman Burak.

„Wie heißen Ihre Eltern?”

„Swjatlana Burak und Aljaxandar Burak.”

„Können Sie den Mädchennamen Ihrer Mutter nennen?“

„Slawina. Swjatlana Slawina.“

„Hervorragend“, sagte der Arzt. „Sehen Sie, Sie erinnern sich an alles, nur nicht an den Unfall. Doch auch diese Erinnerung wird zurückkehren. Wie fühlen Sie sich?“

„Normal“, sagte Raman Burak. „Hervorragend. Das Bier ist gut. Gibt es hier in Krankenhäusern Bier?“

Diese Stimme hatte ich mir ausgedacht. Kratzig, unsicher, mit leichtem Zischen. Die Stimme eines Menschen, der an chronischer Bronchitis leidet.

„Sie sind in einem freien Land“, lächelte der Arzt. „Wir entlassen Sie. Sie können in die Heimat zurückkehren. Und seien Sie vorsichtig, wenn Sie die Straße überqueren.“

„Die Fußgänger in meiner Stadt“, sagte Raman Burak, „sind die diszipliniertesten in ganz Europa.“

„Trotzdem“, lächelte der Arzt erneut. „Passen Sie auf sich auf.“

Dass es Raman Burak schlecht ging, war Teil des Plans.

Raman Burak sollte wissen, dass er gerade erst im Krankenhaus gewesen war und sein Zustand entsprechend normal für einen kürzlich entlassenen Patienten. Alles wird gut, sagte Raman Burak zu sich, während er zum Flughafen fuhr. Er sprach oft mit sich selbst. Es ist schwierig, einen Menschen vom weißen Blatt Papier zu inkarnieren, der nicht mit sich selbst spricht.

Am vereinbarten Tag versammelten wir uns im Büro der Projektleitung. Auf dem Tisch stand Sekt, auf einem breiten Bildschirm liefen die Nachrichten. Nachrichten aus unserer unglücklichen Heimat. Wir waren weit von ihr entfernt, wir waren Emigranten, aber die Kraft war mit uns. Die Kraft der Freiheit.

Der Projektleiter entkorkte den Sekt, zog aber den Korken noch nicht heraus. Er stand einfach so und hielt ihn mit der Hand fest. Er hob sich den feierlichen Knall für diese lang ersehnte Sekunde auf, in der…

„Terroranschlag auf dem zentralen Platz! Vor fünf Minuten hat im Zentrum der Hauptstadt während der Militärparade ein Unbekannter das Feuer auf die Regierungstribüne eröffnet…“

Unsere Augen klebten am Monitor, über den die Bilder des wohlbekannten Platzes flimmerten. Es sah aus, als würde die Parade fortgesetzt – es war nicht einfach, diese wohlorganisierte Maschinerie zu stoppen. Auf den Tribünen aber herrschte Panik. Für einige Momente hörte man nur Schreie und Musik.

„Ein Terrorist hat auf den Führer der Nation geschossen“, schrie plötzlich der Reporter auf dem Bildschirm. „Unseren Informationen zufolge traf der Schuss direkt in den Kopf, der Führer der Nation war sofort tot. Die Polizei hat den Mörder festgenommen… Bei der Festnahme leistete der Terrorist keinen Widerstand…“

Der Korken knallte. Der Projektleiter ließ den Sekt in die Gläser fließen, ich bekam nur Schaum ab, sagte aber nichts.

Wir waren Emigranten, aber wie hatten die Kraft. Die Kraft und das Verlangen nach Freiheit. Die Kraft – und die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft. Die Kraft – und das Wort. Wir hatten schon lange nicht mehr an dieses Volk geglaubt, das bereit war, die Diktatur zu ertragen. Wir hatten das Land verlassen und beschlossen, die Regierung so zu stürzen, wie es sich für Menschen im neuen Jahrtausend geziemt.

„Kommt zu mir“, sagte der Projektleiter. „Lasst uns auf Ales und Inga anstoßen. Auf die Eltern desjenigen, der das Heimatland von der Herrschaft des strengen Diktators befreit hat. Sie sind Vater und Mutter unseres Helden! Sie haben seine Persönlichkeit geschaffen, die Arbeiter im Laboratorium haben einem Stück seelenloser Materie Leben eingehaucht, hunderte Menschen haben an diesem Projekt gearbeitet, hunderte Patrioten haben Tag und Nacht für die eine Sache gewirkt, die nun mit unserem Sieg ihr Ende findet. Herrschaften! Der Tyrann ist tot! Auf Ales und Inga, die den Menschen erdacht haben, der unser Land errettet hat! Gerettet, ohne ein einziges Opfer auf der Seite unseres Volkes! Hurra!“

Wir tranken. Jemand stellte den Ton lauter. Wir warteten auf weitere Informationen. Und da kamen sie.

„Der Polizei ist nun der Name des Attentäters bekannt“, plapperte der Reporter. „Der Terrorist hat ihn selbst genannt. Bleiben Sie dran, in fünf Minuten sind wir wieder da…“

Alle blökten fröhlich und gleichzeitig unzufrieden im Chor. Inga schaute zu mir. Natürlich wollten wir den Namen hören, den sich unsere kleine Abteilung ausgedacht hatte. Sicher erinnerte sich auch Inga an den Tag, an dem ich ihr diese drei Worte geschickt hatte: Raman Aljaxandrawitsch Burak. Sie hatte damals zugestimmt. Dafür schätzte ich sie jetzt.

Die fünf Minuten zogen sich.

„Heute, während der Militärparade im Zentrum der Hauptstadt, wurde unser großer Führer der Nation ermordet“, rief der Reporter wieder ins Objektiv und verschluckte sich fast an der Bedeutung der Mitteilung. „Der Schuss wurde aus einer Entfernung von 20 Metern aus einem Sturmfeuergewehr ausländischer Fabrikation ausgeführt. Der Polizei ist der Name des Attentäters bekannt. Es ist eine Frau namens Palina Tschepik, wohnhaft in einem Hochhaus am Prospekt der Erhabenheit. Wir haben Informationen über sie gesammelt. Palina Tschepik wohnte ihr ganzes Leben in einem Haus am Prospekt der Erhabenheit und arbeitete als Putzfrau. Informationen der Justiz zufolge ist sie noch niemals im Zusammenhang mit ausländischen Geheimdiensten oder terroristischen Emigrantenorganisationen in Erscheinung getreten…“

Wir erfuhren nie, was aus Raman Aljaxandrawitsch Burak geworden war. Wir schreiben Bücher, die niemand kauft, und verdienen unser Geld mit dem, was sich anbietet. Manchmal treffe ich mich mit Inga im Café an der Alten Brücke, dann sitzen wir schweigend und beobachten die Touristen, die in der Vorweihnachtszeit diese schöne, uns aber völlig fremde Stadt überschwemmen. Wir vertiefen uns in die Gesichter und denken daran, dass er eines Tages zurückkehren könnte. Zurückkehren, um uns – seinen zufälligen Eltern – in die Augen zu schauen, und sich vielleicht sogar zu bedanken. Mit der kratzigen Stimme eines Mannes mit chronischer Bronchitis, die er letztes Jahr von mir bekommen hat. 

Aus dem Belarussischen übersetzt von Tina Wünschmann.