Zur 100. Ausgabe des ausreißer
Evelyn Schalk ◄
Es begann mit dem Fehlen. Von Themen, Raum, Zugänglichkeit, Augenhöhe. Von Menschen. In Medien, Literatur, Stadtraum, Kunst, Diskurs, in Kommunikation – und Öffentlichkeit. Was oder wer nicht als Story verkaufbar ist, existiert nicht am Markt der Möglichkeiten. Was nicht in fünf Zeilen oder ein catchy Bild verpackbar ist, wird nicht transportiert. Wer seine Position nicht in zwei Sätzen pointiert formulieren kann, wird nicht gehört. Wer nicht kameratauglich oder selbstbewusst genug für die öffentliche Inszenierung ist, bleibt unsichtbar. Daran hat sich in den über 16 Jahren, die seit der Gründung des ausreißer, seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe vergangen sind, nichts und alles geändert. Nichts, weil es sich noch immer genauso verhält, alles, weil durch die Omnipräsenz von Social Media die Situation verschärft wurde. Nun ist, ganz im neoliberalen Sinn, jede*r auch noch selbst Schuld an der eigenen Unsichtbarkeit. Denn jetzt haben doch ohnehin alle sämtliche Möglichkeiten zur Selbstdarstellung. Ist das so? Es stimmt, die institutionellen Hürden zu öffentlicher Aufmerksamkeit sind durch Facebook, Twitter, Instagram & Co niedriger geworden, der eigene Kanal schnell eingerichtet.
Die Sprache der Un/Sichtbarkeit
Aber neben der technischen Ausstattung (Smartphone, Notebook, diverses Zubehör), die auch finanzielle Ausgaben und damit Selektion bedeutet, gilt nach wie vor, was Didier Eribon in der Rückkehr aus Reims für sich und so viele andere festgehalten hat: „Ich musste kämpfen, und zwar zuallererst gegen mich selbst, um mir Fähigkeiten zuzusprechen und Rechte zu erschließen, die anderen von vornherein mitgegeben waren. Wege, die für andere wie eine gut ausgeschilderte Straße aussahen, musste ich mir zögerlich ertasten. Oder ganz andere finden, weil sich herausstellte, dass die existierenden für Leute wie mich nicht offenstanden.“ Öffentliche Präsenz setzt Wissen, Selbstbewusstsein, das Beherrschen von Codes voraus, auch heute, auch online. Es setzt den Mut zum Sprechen voraus, der jenen, die in benachteiligten Schichten, Familien, Regionen, Verhältnissen geboren und aufgewachsen sind, zumeist fehlt. Denn zu allererst bedeutet es für sie das Erlernen einer neuen Sprache. „Auch das Sprechen musste ich von Grund auf neu lernen (…). Ich musste meine Sprache und meine Ausdrucksweise permanent überwachen“, so Eribon. Erst im nächsten Schritt, wenn überhaupt, wird möglich, was die Feministin und Kulturaktivistin bell hooks als talking back bezeichnete, öffentliche Widerrede, Gegensprache, in der Behauptung der Nichtanpassung. “Moving from silence into speech is for the oppressed, the colonized, the exploited, and those who stand and struggle side by side (…) a gesture of defiance that heals, that makes new life and new growth possible. It is that act of speech, of ‘talking back,’ that is no mere gesture of empty words, that is the expression of our movement from object to subject — the liberated voice.”
Medien Macht Menschen gilt also mit jedem Like auf ein Posting, jedem Kommentar, jedem YouTube-Video und nach wie vor jedem Thema, jedem Namen, jedem Bild in einer Tageszeitung, online oder print. Denn Social Media und traditionelle Massenmedien sind untrennbar miteinander verbunden. Und ja, in etablierten Medien wird über Menschen am Rand berichtet, geschrieben, gesprochen, philosophiert, diskutiert. Aber kaum mit ihnen. Denn das bedeutet, die Sprache zu verändern, die Basis und Bastion des Bestehenden. Es hieße, diese Bastion zu öffnen, Auf- und Umbrüche zu ermöglichen, zu befördern, ihnen Raum zu geben. Das wiederum ist noch viel seltener, Raum aufmachen, für eigene Stimmen und Präsenz. Wie sehr im Gegenteil Bastionen herrschender Zustände aufgerüstet werden, wird täglich vorgeführt an den tödlichen Zäunen und Mauern der Festung Europa, aber auch in jenen Feuilletons, Abendnachrichten und meistgeliketen Instagram-Accounts, die ihre Definitionsmacht Wort für Wort und Bild für Bild, behaupten.
Öffentlicher Raum und writing back
Diese Definitionsmacht manifestiert sich auch in der Gestaltung von Stadtraum, von Nicht/Zugänglichkeit, von immer noch kaum in Frage gestellter Hochglanzwerbung und weiterhin kriminalisierter, bestenfalls misstrauisch diskutierter Graffiti und Streetart. Weil sich hier unautorisiert und meist außerhalb zugewiesener Nischen Menschen einschreiben in die Stadt, sichtbar werden, ohne oder gar wider die Beachtung, Fort- und Festschreibung herrschender Ästhetiken. Weil dieses writing back durch seine unübersehbare Präsenz die Besitzverhältnisse und damit den Kern der be/herrschenden Verhältnisse in Frage stellt, sich ihnen widersetzt und ihnen etwas entgegensetzt. Dass der Markt auch und besonders diese Widerständigkeit frisst, bestätigt nur seine vermeintliche oder tatsächliche Totalität. Umso notwendiger ist die anhaltende kritische Reflexion, die Präsenz von Menschen und Sprache/n, nur diese schafft permanente Zugänglichkeit, andernfalls verkommt auch eine solche wieder zum Schlagwort, zum abgezäunten Biotop, das sich ins Funktionieren verhältnismäßig einfügt – und damit Raum wiederum nur für seine Bewohner*innen offenhält, aber für alle anderen verschließt.
Schnittstellen
Aus diesem Mechanismus auszureissen, ist und bleibt die größte Herausforderung. Denn der „eigentlich tragische Konflikt“, so Marlene Streeruwitz(1), besteht in der „Tatsache, dass wir keine Sprache haben, in der wir uns über das Richtige, das Moralische, das Ethische, das Zugewandte, das freundliche Gesellschaftliche in der Öffentlichkeit verständlich verständigen könnten.“
An diesen Schnittstellen operiert die Wandzeitung, als Ausreißer der Statistik, der Geschichte, der Oberflächenoptimierung, der urbanen Kommerzialisierung. Der Verhältnisse und der Gleichgültigkeit. Wir haben den ausreißer gegründet, weil wir das Fehlen nicht akzeptieren wollen und können. Das Fehlen von Raum, Stimme, Augenhöhe, Sprache. Menschen.
Es ist der Versuch, diesem Fehlen Präsenz entgegen zu schreiben: Sprachraum. Stadtraum. Zeit, in allen Schattierungen. Das gilt auch für den Produktionsprozess. Denn mehr als vieles andere ist Planbarkeit eine Machtfrage von Ressourcen. Bezahlte Arbeit. Leistbarer Raum. Kreative Energie jenseits von Selbstausbeutung. All das sind keine Utopien, sondern Notwendigkeit.
Wie sehr, hat die Covid-Pandemie unübersehbar zutage gefördert und weiter verschärft.
Über Grenzen
Diese 100. Ausgabe erscheint nicht zuletzt deshalb erst zum Jahreswechsel. Aber ebenso, weil Öffentlichkeit Verantwortung bedeutet. Berichten und Handeln. Hinschauen und Zuhören. Sprache leben, übersetzen, verändern. Verstehen und widerstehen.
Was drei Häuser weiter passiert und ein paar tausend Kilometer entfernt, ist enger miteinander verknüpft als je zuvor. In diesem Sommer hat die Welt zugesehen, wie ein Land „nicht um 20 Jahre, sondern diesmal um ein ganzes Jahrhundert“ zurückfällt. In Afghanistan haben die radikalislamistischen Taliban die Macht übernommen. Für ihre Gegner*innen bedeutet das Folter und Tod. Für Frauen bedeutet es größtmögliche Unterdrückung der grundlegendsten Rechte. Für die große Mehrheit im Land bedeutet es bittere Armut. Schon jetzt haben laut UN nur 2 % der Bevölkerung genug zu essen. 2 % von 40 Millionen Menschen. Nach einem ersten Schock geht die Weltöffentlichkeit zur Tagesordnung über. Eine Tagesordnung, die es für 40 Millionen Menschen nicht mehr gibt. Auch für Amena Karimyan nicht. Die junge Wissenschaftlerin war Afghanistans einzige Astronomin, engagierte Frauenrechtsaktivistin und mutige Autorin. Wir hatten sie im Rahmen unserer Reihe Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise schon im Frühjahr des vergangenen Jahres eingeladen, als die Taliban die Macht übernahmen, floh sie von Herat nach Kabul – eine Odyssee begann. Mit Hilfe eines Schutzbriefes, ausgestellt von der österreichischen Botschaft in Islamabad, schaffte sie es über die Grenze nach Pakistan, im Vertrauen auf das im Dokument schriftlich zugesichterte Visum. Doch kaum angekommen, schlug man ihr die Tür vor der Nase zu und verweigerte ihr die Ausstellung. Es folgten Monate in Angst, Ungewissheit, Demütigung. Wir, die ausreißer-Redaktion, haben, zusammen mit zahlreichen Kolleg*innen und Helfer*innen, auf der Einhaltung der Visumszusage bestanden, sie in Islamabad unterstützt, damit sie nicht buchstäblich auf der Straße landet und versucht, sie endlich in Sicherheit zu bringen. Eine Solidaritäts-Petition von SOS Mitmensch haben fast 8000 Menschen unterzeichnet. Elfriede Jelinek meldete sich als erste öffentlich zu Wort: „Das Schlimmste, das ich mir vorstellen kann, ist, einem Menschen, der am Ertrinken ist, die Hand hinzuhalten und sie dann im letzten Moment doch noch wegzuziehen. Einem Menschen Hoffnung zu machen und die Rettung im letzten Augenblick zu verweigern. Das hat das österreichische Außenministerium mit Amena Karimyan gemacht.“ Viele weitere solidarische Stellungnahmen folgten. Inzwischen kürte die BBC Amena Karimyan zu einer der 100 einflussreichsten und inspirierendsten Frauen 2021. Allein, die österreichischen Behörden reagierten nicht. Sie hatten ihr Versprechen gebrochen und beharrten darauf. Nun, zu Jahresende, kurz bevor diese Ausgabe endlich erscheint, hat sich das Blatt noch einmal gewendet. Nein, Österreich ist nicht von seinem Wortbruch abgerückt und er wird sich in die lange Geschichte humanitärer Kälte einreihen. Doch Amena Karimyan ist vor kurzem in Deutschland angekommen, wo ihr als besonders gefährdete Wissenschaftlerin und Frauenrechtsaktivistin ein Neubeginn ermöglicht wird. Es war einer der schönsten Momente, die wir seit langem erleben durften, als wir die erste Nachricht von ihrer Ankunft in Sicherheit erhielten: „Ich bin endlich da.“
Solidarisch. Kommunikativ. Öffentlich.
Medien Macht Menschen. Doch Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit, die Möglichkeit eines menschenwürdigen Lebens dürfen nicht von öffentlicher Geschichtenerzählung abhängen und tun es doch immer noch und immer weiter. Einmal mehr hat diese Geschichte gezeigt: Solidarität fehlt. Abgrundtief und meterhoch. Aber auch: Solidarität ist da. Ohne Wenn und Aber.
Gelebt, geteilt, über alle Grenzen hinweg. Diese Erfahrung durften wir in diesen Monaten ganz unmittelbar und gemeinsam mit sehr vielen Menschen machen, die nicht weggeschaut haben, sondern aktiv geworden sind, sich zu Wort gemeldet, unterstützt, gehandelt haben , quer über diesen Globus hinweg. Ihnen allen ein großes Danke an dieser Stelle.
Wider dieses Fehlen. Für das Da-Sein. Auf der Straße, in den Köpfen, in der Sprache, im täglichen Wirbel der Zeit. Denn ja, es geht um Wert – um Gleichwertigkeit. Um Existenz.
Danke aber auch und besonders an alle, die uns über die Jahre begleitet, getragen, kritisiert, bereichert, an uns geglaubt, uns vertraut, gelesen und gesehen haben. Einige von euch haben Beiträge für diese Ausgabe verfasst. Viele werden sie hoffentlich lesen, sehen, kritisieren, bereichern, weitertragen – und immer wieder ausreissen!
(1) Marlene Streeruwitz. Geschlecht. Zahl. Fall. Vorlesungen, S. Fischer: 2021
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Zu dieser Ausgabe:
In der 100. ausreißer-Ausgabe veröffentlichen wir Beiträge von Autor*innen, Künstler*innen, Kolleg*innen, die uns in 16 Jahren ausreißer publizistisch, literarisch, künstlerisch und persönlich begleitet und inspiriert haben.
Danke euch dafür!
Es sind noch viele mehr, in 100 ausreißer-Ausgaben sind ihre Texte und Arbeiten publiziert und ihr werdet sie auch bei der Lektüre jeder weiteren ausreißer-Nummer finden!
In dieser Ausgabe gibt es außerdem Fotos, die den ausreißer in eher unbekannten Perspektiven zeigen, Backstage-Einblicke, Archivmaterial sowie Schnappschüsse aus 16 Jahren Redaktionsalltag der Wandzeitung!
Wenn ihr eure ausreißer-Ansichten als Fotos künftig auf unseren Social-Media-Kanälen oder auch gedruckt sehen wollt, schickt sie uns doch! Wir freuen uns auf neue Ein- und Ausblicke!
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