Regina Appel ◄
Als Onkel Alfred meiner Familie mitteilte, er wolle mich kennen lernen, stand ich kurz vor der Matura. Er war, so lange ich denken konnte, im Ausland gewesen, doch dann zurückgekehrt, in das Haus seiner Schwester, in das meiner Großmutter. Ich weigerte mich, als meine Eltern mir auftrugen ihn einmal die Woche zu besuchen. Sie reagierten diplomatisch. Onkel Alfred habe sie über die Jahre immer unterstützt und da er angeboten hatte mein Studium zu finanzieren, solle ich, alt genug wie ich war, selbst entscheiden. Das war Erpressung, ein Kuhhandel. Ich protestierte lautstark. Doch letztendlich fügte ich mich, wollte ich doch nach dem Abschluss ausziehen und studieren.
Als ich das erste Mal an seiner Tür läutete kamen Erinnerungen an meine Großmutter hoch. Sie war schon viele Jahre verstorben. Onkel Alfred öffnete die Tür und ich stand einem großen Mann gegenüber. Weißer Bart, Wollpullover, Bauchansatz. Er bat mich in die Küche, wo er gerade ein Huhn zerlegte und mir erklärte, er wolle Suppe zubereiten. Ich hatte Kaffee und Kuchen erwartet doch stattdessen bat er mich ihm zu helfen. Ich sollte das Gemüse putzen und schneiden. Schnell wurde ihm klar, dass ich zu Hause beim Kochen nicht helfen musste und er begann mir Anweisungen zu geben. Während wir die Suppe zubereiteten stellte er mir Fragen über die Schule, über meine Freunde und über die Stadt, in die er nun nach so vielen Jahren zurückgekommen war. Ich hatte mich auf diese Fragen vorbereitet, wollte abweisend sein, klarmachen, dass ich von diesem Erpressungsversuch absolut gar nichts hielt, doch während ich die Karotten schälte und mich konzentrierte den Lauch so fein wie möglich zu schneiden, rutschten mir doch mehr Information über die Lippen, als ich hatte preisgeben wollen.
Ich bemühte mich die Wochen darauf zurückhaltender zu sein. Was mir auch gelang. Onkel Alfred akzeptierte das. Es nervte ihn jedoch, wenn ich während unseres Treffens auf mein Handy schaute, Nachrichten tippte und las. Ich wollte ihn provozieren, so sehr, dass er sich langweilte und mich nicht wieder einlud. Doch eines Nachmittags sprach er mich darauf an. Was denn da so Wichtiges wäre, fragte er. Neuigkeiten, sagte ich. Dann erzähl sie mir, sagte er. Ich weigerte mich. Dann kann es nicht so wichtig sein, antwortete er. Doch, sagte ich. Weißt du denn, was in der Welt passiert, fragte er. Ich fühlte mich angegriffen. Doch Onkel Alfred drehte den Spieß um und fragte ganz ruhig, ob ich ihm denn erzählen könne, was im Land so vor sich ging, wie es um die Politik stünde, und wie es den Menschen damit gehe. Er habe so lange im Ausland gelebt, dass er keinen Einblick mehr hatte. Plötzlich so ernst genommen, und vorbereitet auf eine Prüfung in politischer Bildung, begann ich aufzuzählen, welche Parteien regierten, wer welchen Ministerposten inne hatte, wer Kanzler war und wer Präsident. Onkel Alfred lehnte sich zurück und begann zu lächeln. Dann sagte er einen Satz, den ich noch oft von ihm hören sollte. Erzähl es mir mit deinen Worten, sagte er. Er fragte immer wieder nach, wenn er etwas nicht verstand oder wenn ich mich verhaspelte, oder wieder begann auswendig Gelerntes aufzuzählen.
Die nächsten Treffen beschäftigen wir uns damit, die Grundsteine für spätere Diskussionen zu legen, was mir zu diesem Zeitpunkt jenoch nicht klar war. Er stellte mir einfache Fragen. Was denn eine Demokratie sei, oder wie sich die Europäische Union zusammensetzte. Es störte ihn nicht, wenn ich dabei mein Handy als Rechercheinstrument verwendete, solange ich ihm das Erfahrene in meinen Worten wiedergab. Onkel Alfred hatte die Angewohnheit wichtige Punkte unserer Gespräche aufzuzeichnen. Er hatte immer einen Stapel Papier und einen Bleistift zur Hand. Der Bleistift war notwendig, denn Onkel Alfred war es wichtig, falsch Notiertes ausradieren und korrigieren zu können. Das kam daher, dass er mich falsche Dinge sagen ließ und diese auch aufschrieb. Am Ende unserer Gespräche fanden wir jedoch immer zu einem richtigen Ergebnis.
Irgendwann bat er mich Tageszeitungen mitzunehmen. Er drückte mir einen Geldschein in die Hand und sagte er wolle sie alle. Den Boulevard und die Qualitätsblätter. So kam es, dass ich einmal die Woche mit einem Stapel Zeitungen unter dem Arm zu Onkel Alfred marschierte. Mittlerweile mit Vorfreude auf den gemeinsamen Nachmittag. Der Ablauf änderte sich dahingehend, dass wir zuerst Suppe aßen und über Allfälliges plauderten. Dann zogen wir uns ins Wohnzimmer zurück. Wo früher sein Ohrensessel stand, füllte nun ein zweiter Sessel den Raum. Zwischen uns ein großer Couchtisch. Wir breiteten die Zeitungen aus, entschieden uns für ein Thema und lasen sämtliche Artikel dazu. Dann begann die Analyse und unsere oft hitzige Diskussion. Onkel Alfred entpuppte sich als Freund von Pro-Contra-Listen. Es machte uns ungeheuren Spaß das Gelesene in Argumente zu zerpflücken und auch nicht ganz ernst gemeinte Punkte auf die Liste zu setzen. Bei diesem Meinungsaustausch waren wir Gleichberechtigte. Wenn ich einen Standpunkt zu ähnlich dem Gelesenen wiedergab, korrigierte er mich mit seinem Lieblingssatz: Erzähl es mir mit deinen Worten. Mit der Zeit waren meine Aufmerksamkeit geschärft, und manchmal, wenn auch ganz selten, gab er mir Anlass diesen Satz zu ihm zu sagen. Dann lehnte er sich in den Ohrensessel zurück und lachte aus vollem Hals, holte Luft und kam meiner Aufforderung nach. Auf der Rückseite jeder Pro-Contra-Liste hielten wir Platz für unseren Fazit. Wir schlossen jedes Thema mit der von uns erschaffenen Worum-gehts-eigentlich-Kolumne.
Schnell erhöhte sich die Frequenz meiner Besuche. Wo mich meine Eltern anfangs noch auffordern mussten zu Onkel Alfred zu gehen, erinnerten sie mich jetzt daran, dass ich noch ein Zuhause hatte und nicht ständig bei ihm sein sollte, ich würde ihm noch zur Last fallen.
Die Wochen und Monate vergingen, ich schaffte die Matura und im Herbst darauf zog ich in eine kleine Wohnung und begann mein Studium. Ich bedankte mich ausgiebig bei Onkel Alfred, nicht nur für die Finanzierung sondern auch dafür, dass er mir Mut gemacht hatte ein anderes Fach zu wählen. Eines, das besser zu mir passte.
Ich habe ihm ein Tablet geschenkt, damit wir unsere Treffen online abhalten können. Ich sehe dann seinen Kopf zwischen den Ohren seines Sessels. Es ist beinahe wie früher. Onkel Alfred hat gelernt E-Mails zu schreiben. Doch gegen Onlinezeitungen wehrt er sich bis heute. Das geht ihm alles zu schnell, sagt er. Stößt er auf einen Artikel, den ich lesen soll, schickt er mir ein Foto davon. Meist ist auch sein Zeigefinger mit auf dem Bild. Sein Zeigefinger, der stets schwarz von der Druckertinte ist.