Markus Grundtner ◄
1987 hieß es: „Mein Tanzbereich – dein Tanzbereich.“, heute heißt es: „Mein Distanzbereich – dein Distanzbereich.“
So könnte mein Corona-Roman anfangen – Arbeitstitel: Dirty Distancing
Meine Freundin Klaudia sagt, dass die Coronakrise alles zehnfach verschärft habe: die Probleme der Menschen, deren Konflikte und deren Wahnsinn. Das sagt sie nach unserem Streit darüber, wer von uns erschöpfter ist. Wir haben Zwillinge, zwei Jahre alt. Klaudia ist Italienischlehrerin und versucht ihre Schüler zu erreichen, vergeblich. Ich bin Anwalt und meine Mandanten versuchen mich zu erreichen, erfolgreich. Tja, auch den Untergang muss irgendwer regeln.
Wenn mir einmal Zeit bleibt, bin ich Autor. Als solcher kann ich Klaudias Einschätzung nur beipflichten: Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus führen – dramaturgisch gesehen – dazu, dass Menschen, die zusammenleben und einander bisher erfolgreich aus dem Weg gegangen sind, sich nicht mehr aus dem Weg gehen können. Der Beweis: Ich bekomme viele Anfragen, ob ich auch Scheidungen übernehme.
Demnächst in Ihrem Heimkino: Dr. Corona oder: Wie ich lernte, die Kollateralschäden an der Gesellschaft zu lieben
Der Kindergarten ist geschlossen. Unter tags gehe ich mit den Kindern raus, denn ich kann besser mit den Polizisten über die Verfassungswidrigkeit jener Verordnungen diskutieren, die sie durchsetzen sollen. Nachts erledige ich dann meine Kanzleiarbeit, sodass ich am Ende keinen Kopf mehr habe, auch nur einen Satz zu formulieren. Früher war das Schreiben ein Kampf gegen mich selbst, mittlerweile ist es ein Kampf gegen die Gesamtsituation, damit gegen die Menschen, welche die Bedingungen dieser Situation verstärken – ein Kampf gegen die eigene Familie.
Vielleicht sollte ich einfach wie ein Schriftführer in einem Gerichtsprozess arbeiten, also nur protokollieren, was um mich herum geschieht und gesagt wird, aber bloß nichts reflektieren.
Die Kinder haben Geburtstag. Beim Händewaschen singe ich vier Mal Happy Birthday, zwei Mal gegen das Virus und zwei Mal für die Kinder. Klaudia setzt ihnen selbst gebastelte Kronen auf und bringt ihnen das italienische Wort dafür bei. Nach unserer Mini-Feier gehe ich mit den Kindern raus. Ich spaziere durch Wien mit Zwillingen, die begeistert „Corona! Corona!“ rufen.
Der Arbeitstitel dieses Romans lautet: Den Kindern geht es wunderbar
Ein Buch schreiben, heißt, präsent zu sein und sich zugleich zu entfernen, Letzteres auch in Zeiten, in denen das unmöglich ist.
Das Händeschütteln ist also Geschichte, ich vermisse es nicht.
Genauso sollte mein Corona-Roman beginnen und so weitergehen:
Nun lebe ich auch gesünder: Statt zwei Tassen Kaffee trinke ich täglich eine Tasse Bourbon.
Der Arbeitstitel: Das Treffen der alkoholischen Anonymiker
Meine Kinder streiten um Buntstifte, auf dem Smartphone streiten meine Kollegen um die Auslegung der Kurzarbeitsrichtlinie und ich bin mittendrin. Ich habe alle Hände voll zu tun, und nie lange auch nur eine Hand frei. Weil ich den Corona-Roman lebe, kann ich ihn nicht aufschreiben. Aktuell reicht mein Material höchstens für einen Erziehungsratgeber im Kurzformat: Elternschaft bedeutet, den Nachwuchs müde zu machen, ohne dabei selbst müde zu werden. Viel Glück!
Die Schriftstellerei wird hiermit auf unbestimmte Zeit vertagt.