Juergen Ghebrezgiabiher ◄
So kann das nicht weitergehen. Unser Zug rast ungebremst gegen die Wand. Wir vernichten uns selbst. Wenn wir jetzt nicht handeln …
Viele von uns werden solche oder ähnliche Gedanken in den letzten zehn, zwanzig Jahren schon mal gehabt haben – und vielleicht vermehrt in jüngster Zeit. Denn wie sollte das mit dem ungebremsten Wachstum auch gutgehen? Dafür muss man keine Mathematik oder Volkswirtschaft studiert haben. Der Abschluss eines solchen Gedankengangs war jedoch bislang mehrheitlich immer derselbe: Bequemlichkeit geht vor. Es hat überhaupt nichts mit Vernunft zu tun oder damit, die Verantwortung auch für zukünftige Generationen (oder erst mal nur die nächste und übernächste) an Bord zu nehmen. Denn wir hatten’s in den Speckgürtelländern einfach echt gut. Auch die „kleinen“ Leute.
Dann trat Fridays for Future auf den Plan. Eine stimmgewaltige Bewegung, die über politische, parteiliche und nationale Grenzen hinweg, friedlich, sachlich und nachdrücklich ein Umdenken einfordert. Und es sind die Menschen, die ein Umdenken und Umlenken am meisten betrifft: die Jungen. Diese jungen Leute sind in ihrer Zielstrebigkeit, in dem, wie sie sich artikulieren, in ihrer bei der Sache und den Fakten bleibenden Coolness schon wie ein Wunder. Ein lästiges für die, die immer so weitermachen wollen. Aber ein Boden der Tatsachen, der in seiner Dringlichkeit eine tatsächlich neue politische Dimension klar macht: So kann es nicht weitergehen. Und diese jungen Menschen wollen sich nicht mit Hinhalteversprechungen abspeisen lassen, weil sie begriffen haben, was fünf vor zwölf bedeutet und es schon längst nach zwölf ist.
Und jetzt ist es passiert. Nur ein weiteres Wunder kann man es nicht nennen – oder vielleicht erst irgendwann im Rückblick. Das bislang Undenkbare, das, wofür wir uns eher Feuerwüsten oder Weltkriegsszenarien vorgestellt haben, der Gongschlag, der keiner ist, weil er Stille ist.
Quasi über Nacht und aus heiterem, immer höherem Wachstumshimmel. Nichts geht mehr so weiter wie bisher. Ein Virus legt die Welt lahm. „Einer“, der sich nicht von Grenzen aufhalten lässt. Der keinen Unterschied macht zwischen Arm und Reich, wohl aber Arm und Reich unterschiedlich stark trifft. Unser ungewollter Siegerkranz. Wachstumsweltmeister stehen angeschlagen und krank auf dem Podest. Weltweit leeren sich die Zuschauerränge, gehen Völker in Quarantäne, kommt bis auf die Grundversorgung das öffentliche und kulturelle Leben zum Stillstand. Kondensstreifenfrei der Himmel.
Schon durch die Klimabewegung kam es zu einer exponentiellen Verschiebung im Grad der Betroffenheit und der Menge an Betroffenen. Weil das Klima in seiner weltumspannenden Auswirkung alle angeht, weil der Klimakatastrophe zwar viele immer noch glauben ausweichen zu können, ihr aber letztendlich niemand entgeht, ist sie zugleich global und stärker in den persönlichen Bereich jedes/r Einzelnen eingedrungen als politische oder soziale Konflikte auf nationaler oder lokaler Ebene. Doch trotzdem unser Selbstbedienungsverhalten auf dem bislang einzigen Planeten für uns bekanntermaßen verheerend ist, stellt das Klima keine augenblickliche, unmittelbare, leibhaftige Bedrohung dar – bzw. wir benehmen uns als wäre dem so. Das mit dem Klima hat, wenn wir nach den Trägheitsgesetzen der politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse urteilen, noch Zeit, ist uns in den satten Ländern trotz seiner Dringlichkeit noch nicht so nahe und real, dass wir in Panik gerieten.
Das ist nun anders.
Auch wenn manche Personengruppen weniger anfällig für einen durch das Coronavirus ausgelösten, schweren Krankheitsverlauf sind, die Gesundheit aller und jedes/r Einzelnen wird von dieser Pandemie gefährdet. Covid-19 macht, was Seuchen machen: Es kommt uns näher als alle noch so bedrohlichen, uns umgebenden Phänomene. Es dringt in den Menschen ein. Es gibt keine Distanz mehr. Das Virus ist in mir, dir, ihm, ihr. Das Virus sind im Endeffekt wir.
Covid-19 verbreitet sich mit folgenschwerer Effizienz und einer ganz eigenen Intelligenz in den Verursacherländern eines seit Jahrhunderten mit wirtschaftlichen Ausreden aufrechterhaltenen globalen Notstands. Und selbst in historischen Habe-Nationen und sich turboindustrialisierenden neuen Machtstaaten gehen die Gesundheitssysteme in die Knie, sterben Menschen, die nicht zwangsläufig am Coronavirus hätten sterben müssen.
Die täglich vermeldete Anzahl der Toten dient dabei der Untermauerung, dass zum Schutz der Risikogruppen – ziemlich ungenau auch als „die Schwächsten“ bezeichnet – unserer Bevölkerung der nationale Notstand erklärt wird.
Die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle dieser globalen Ausnahmesituation erinnern an Seuchenbekämpfung in früheren Zeiten: Wir mauern uns ein. Medizinisch und ausrüstungstechnisch wird international ein bisschen Nothilfe ausgetauscht, doch das Heil wird in der nationalen Lösung gesucht, innerhalb der Grenzen, die unsere Leben so nachhaltig bestimmen wie seit langem nicht mehr. Tatsächlich über Nacht wurde die einzigartige Reisefreiheit und Freizügigkeit in den EU-Staaten aufgehoben. Und es hat einen kleinstaatlichen Beigeschmack, dass selbst zwischen Bundesländern die Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist. Die Vorgehensweise zur Bekämpfung von Covid-19 ist erstaunlich militärisch. Bis in private Bereiche reichende Kontrolle. Und sicherlich ebenso erstaunlich: wie weit die Bevölkerung in der Selbstkontrolle geht.
So ist in panischer Vernünftigkeit aus einer allmählich geschockten Bevölkerung und den das Leben massiv einschränkenden Maßnahmen eine weitgehend bizarre Normalität entstanden. Die Sorge wächst, wie wir aus dieser „Nummer“ wieder herauskommen. Kriegsmetaphern zu bemühen, wie es Volksvertreter auf der ganzen Welt gerade für angemessen halten, lenkt den Blick in eine bekannte Richtung: als gäbe es einen Feind, den wir besiegen müssen, wollen, könnten. Doch ein Virus ist nicht im eigentlichen Sinne ein Feind. Es schmeißt keine Bomben, verwüstet nicht unsere Städte und Länder, bringt nicht auf Knopfdruck unermessliches Leid, das wir uns als Menschen sonst selbst zufügen. Ein Virus legt bloß. Für die Veränderungen sind wir selbst zuständig und verantwortlich.
Wer Schuldige sucht, braucht nur in den Spiegel zu sehen. Ob wir nun potenziell jemanden anstecken können oder für die uns ebenfalls sehr effektiv bedrohende Überhitzung dieses Planeten mit verantwortlich sind, sowohl das Virus wie auch die Globalisierung unserer Überlebensprobleme betreffen uns alle und jede/n Einzelnen von uns ganz direkt. Ob ein Präsident aus dem Westen anklagend gen Osten deutet, spielt keine Rolle. Er deutet im selben Augenblick auf sich. Und den Karren unserer industrialisierten Unersättlichkeit, der für alle sichtbar schon seit langem im sprichwörtlich selbstproduzierten Dreck steckt. Als Menschheit betrachtet, sind wir einfach nicht auf der Höhe der weltweiten Entwicklungen und einer mehr als nur diplomatisch vernetzten globalen Gemeinschaft.
Antworten auf die Frage, warum ausgerechnet eine Krise zur Chance werden sollte und wie das wohl gehen könnte, gibt es nicht. Veränderung ist, solange sie nicht stattgefunden hat, reine Spekulation. Die Angst vor der Unwägbarkeit – und wir haben gerade alle Angst oder sind maximal besorgt – gibt eine irritierte Kompassnadel ab. Meist wird in die Richtung weitermarschiert, in die die ganze Zeit über regiert wurde. Scheinbar bietet bislang nach wie vor einzig das „Bishierherige“ eine Art verbriefte Entwicklungs- oder Zukunftssicherheit für Bevölkerungen und Staaten.
Covid-19 ist das konkurrenzlos einschneidende Ereignis in 2020 und wird das angehende Jahrzehnt prägen. Stellen vermeintlich superpotente Nationalstaaten die Kleinstaaterei des kaum begonnen globalen Millenniums dar? Können Gesellschaften überhaupt noch national sein in einer weltweiten Gemeinschaft, deren Entwicklungs- und Überlebensfähigkeit von Verständigung, Toleranz und darin besteht, Verantwortung für die bisherigen Untaten (wenn es nicht so katholisch wäre, eigentlich Sünden) zu übernehmen und sich so sehr zu öffnen, das Freizügigkeit zum überall auf dieser Erde verankerten Grundrecht wird?
Unserem in Grenzen der Vorstellung gefangenen Denken ist Corona ebenso einen Schritt voraus wie unseren Regierungen, die sich in einer solchen Ausnahmesituation altbewährter militärischer Mittel der staatlichen Fürsorgepflicht bedienen, als könnten wir Viren mit Schmetterlingsnetzen fangen. Wer wollte es ihnen momentan vorwerfen? Regierungen tun, wenn auch zuweilen in einer Rette-sich-wer-kann-Logik, in vielen Ländern gerade ihr Bestes.
Doch was bzw. wer rettet was und wen? Ist „retten“ überhaupt ein momentan brauchbarer Begriff? Sollten (im Verhältnis) unermesslich reiche Industriestaaten nicht erstmal die „retten“, die hauptsächlich durch ihr Verschulden nichts oder zu wenig zum Leben haben? Und nun von der Corona-Pandemie am schlimmsten betroffen sind. Warum werden beispielsweise Obdachlose und Menschen aus Migrant*innenlagern jetzt nicht in leerstehenden Hotels untergebracht, ver- und umsorgt? Warum werden Flüchtlingslager am Mittelmeer an den hochgefahrenen Außengrenzen der Europäischen Gemeinschaft nicht von leeren Kreuzfahrtschiffen angesteuert? Diese Menschen ihrem von uns bestimmten Schicksal zu überlassen, wird zur Fortsetzung von weltweiten Verteilungskriegen (mit anderen Mitteln) und invertiert die nach wie vor vorhandene koloniale Arroganz der Habe-Länder, in denen wir leben. Was Covid-19 in den Flüchtlingslagern auf der ganzen Welt anrichten wird, wird uns einen Vorgeschmack darauf geben, was es bedeutet, wenn die Seuche die „Hungerländer“ oder Selbstbedienungsläden der Industriestaaten erreicht.
Die Zaghaftigkeit internationaler Diplomatie erklingt beschämend (und gleichzeitig doch auch ein bisschen Hoffnung machend, weil es ein bislang ungehörter Aufruf ist) im Appell aus dem Palais des Nation snach einem „globalen Waffenstillstand“ an. Als Feind, vor dem die Menschheit gerettet werden muss, erneut: Covid-19. (Sollte die Besorgnis aufgrund von Covid-19 tatsächlich bewaffnete Konflikte indirekt beenden, müssten wir das nicht als Freundschaftsdienst bezeichnen?) Zumindest wird die weltweite Dimension dieser Krise erkannt. „Die Wut des Virus veranschaulicht den Irrsinn der Kriege.“
Wenn es etwas gibt, was dem Coronavirus völlig abgeht, dann ist das Wut. Die Brutstätte des Virus sind wir – im Grunde ebenso wie für den „Irrsinn der Kriege“ – und es ist mehr als denkbar, dass viele von uns voller Wut sind oder zu gegebener Zeit sein werden. Doch dem Virus bieten wir einfach nur ein Umfeld. Es erkennt uns als geeignetes/n Wir(t). Es verbreitet sich über Verkettungen von Umständen, nicht Emotionen. Trotz der allerorten ergriffenen Maßnahmen werden die Schwächsten wieder die Letzten sein. Weltgeschichte ist keine epidemologische Frage, sie ist eine – auch wenn ich damit Marx zum Virologen mache – von der ökonomischen Basis und dem kulturellen, sozialen Überbau bestimmte.
Doch die Epidemie stellt ihre eigene klare Frage: Wer oder wie viele werden denn überhaupt noch so weitermachen können wie bisher?
Welche Nationen überstehen die selbstverordneten „Maßnahmen“ soweit unbeschadet, dass sie einen Neustart der alten Motoren hinkriegen? In Europa müssten wir eigentlich im kollektiven Gedächtnis schon ein Eselsohr gemacht haben, dass es unsere direkten Nachbarn sind, die dann über Nacht (aus einem Solidarpakt heraus und) hinten runterfallen. Eine Gleichgültigkeit der Gemeinschaft wie gegenüber dem Altwerden in unseren Gesellschaften, das einer ökonomischen Fehlfunktion gleich zur Auslese führt, die zivilisiert alt werdende Omas, Opas und Eltern in die sarkastisch stoischen Worte verpacken: Die Einschläge kommen (halt) immer näher.
Hören wir hin, hören wir uns, hören wir dem Virus zu oder kämpfen wir uns wieder durch bis ins altbewährte „wie vorher“?
Opfern wir Risikogruppen wie Arme, Schwache, Kranke oder Alte dafür, dass wir unseren Zugang zu Belohnungskonzepten wie Konsum, Urlaub und sozialem Status verteidigen? Die Wirtschaft könnte dann wieder hochfahren. Eine Wirtschaft, die auf den für sie bereiteten neoliberalen internationalen Märkten einer für Normalsterbliche immer unvorstellbareren Verteilungsungerechtigkeit Vorschub leistet. Oder könnte gerade jetzt und ausgerechnet soziale Gerechtigkeit im Verbund mit der Sorge und den allerorten eingesetzten Bemühungen um unsere Gesundheit zur gesellschaftsentscheidenden Frage aufgeworfen werden? Bietet uns die Corona-Krise die einmalige Gelegenheit, die Profitorientierung von der Rüstungsindustrie bis zum Gesundheitswesen zu prüfen und zu einem menschlichen Maß umzugestalten? Sollten Abermilliarden Euro, Dollar, Yen, Yuan, die momentan für den Erhalt der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Grundsicherung aufgebracht werden, ein Signal für Investitionen in Menschen und Gesellschaftskultur statt in Konjunktur und die Zwangsvorstellung von ewigem Wachstum sein?
Wenn ich an das Potenzial und die Möglichkeiten denke, die in dieser völlig unerwarteten Situation für die ganze Welt stecken könnten, stehen wir im Grunde ganz am Anfang von überhaupt nicht absehbaren, aber grundlegenden Veränderungen. Das eigentliche Wunder und eines der bizarr schönen Geheimnisse der menschlichen Psyche ist, dass wir, obwohl wir gerade dabei waren, alles mit voller Wucht gegen die Wand zu fahren, immer noch daran glauben können, ein Steuer in den Händen zu halten.
Steuermänner und -frauen versuchen, das Ruder ihrer nationalen Dampfer auf Kurs zu halten. Die „Besatzungen“ dieser oft ziemlich noblen Kähne, auf denen Covid-19 gerade grassiert, sind besorgt. Zwar haben sie sich die Quarantäne gefallen lassen mit Aussicht auf späteren Ausgang und gute Versorgung, spüren aber auch, dass nicht das Leben an Bord sich verändert hat, aber „draußen“ vom Wetter bis zum Wellengang alles anders geworden ist.
Auf unserem deutschen Kahn klappert möglicherweise der Smutje mit den Töppen und summt:
Ein neues Lied, ein besseres Lied, O Freunde, will ich euch dichten!
Der kennt Henri Heine! Vielleicht stimmt jemand ein. Denn wann, wenn nicht jetzt?