Regina Appel ◄
Kalter Nieselregen fällt auf seine erhitzte Haut. Er schließt die Augen, läuft weiter. Der Kopf ist weit nach hinten gelehnt. Er genießt die feuchten Nadelstiche im Gesicht.
Er hat die Laufschuhe angezogen, seiner Frau aus dem Flur zugerufen, er komme in einer Stunde wieder. Die Antwort, ein Schnaufen. Sag wenigstens den Kindern… Doch das Ende ihres Satzes hörte er nicht mehr. Er hatte die Tür hinter sich zugezogen.
Er konnte nicht länger warten. Er wollte es jetzt. Er brauchte es. Früher hat er es nur selten getan. Nach dem ersten Mal, ganz lange nicht. Später einmal im Monat. Mittlerweile jede Woche.
Er muss es abends tun. Wenn die Menschen ihre Kinder ins Bett bringen oder vor dem Fernseher sitzen. Wenn sie zu Hause sind und die letzten Stunden ihres Alltags durchleben. Ihm gefällt der Vorwand laufen zu gehen. Und seine Frau mag es, wenn er Sport macht, auf sich Acht gibt, nicht wie andere Männer abends ins Wirtshaus sitzt.
Schon nach den ersten Metern spürt er Strom durch seinen Körper fließen. Jeder Schritt löst einen Impuls aus, der von seinen Fußsohlen, über seine Rücken kriecht, Wirbel für Wirbel hoch bis zu seinem Kopf steigt.
Sein Rhythmus ist gleichmäßig. Er fühlt sich gut. Er läuft drei Kilometer. Dann hat er die Brücke erreicht. Eins, zwei, drei. Er zählt die Anzahl der Geländerbögen an denen er vorbeiläuft. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Der fünfundzwanzigste ist sein Bogen. Der Bogen ganz in der Mitte. Dort bleibt er stehen und atmet tief durch. Erst als er gleichmäßig durch die Nase atmen kann, berührt er das Geländer. Sanft streichen seine Hände über das glatte, kalte Metall. Er schließt die Augen. Er ist angekommen.
Dem Streichen seiner Hände folgt ein fester Griff. Die Kälte dringt in seine Haut. Strahlt weiter, schmerzhaft bis in seine Knochen. Er presst seine Hüften gegen das Geländer und lehnt sich nach vorne. Noch ein Stück. Er balanciert, bis seine Füße in der Luft sind. Er löst die Hände. Und schwebt. Nur die Schwerkraft drückt ihn nach unten, nur sein Gewicht hält ihn fest.
Seine Gedanken lösen sich, werden klar, fallen hinunter in die Nacht.
Sein Leben? Gewöhnlich.
Seine Hoffnungen? Längst vergessen
Seine Träume? Verschwunden.
Dabei geht es ihm gut. Er hat Arbeit. Er kann seine Familie ernähren. Er ist gesund.
Er lächelt.
Langsam lehnt er sich zurück, sanft berühren seine Laufschuhe den Boden. Er blickt sich um. Es ist niemand zu sehen. Er zögert. Doch dann hebt er sein rechtes Bein.
Den Oberkörper muss er dafür auf das Geländer lehnen, um sein Bein auf die andere Seite, die Wasserseite, zu hieven. Er glaubt Wind zu spüren, glaubt, dass seine Kleidung flattert, glaubt, dass er selbst flattert. Doch es ist nur das laute Pochen in seinen Ohren, das ihm den Wind einbildet. Sein rechtes Bein hat auf dem Vorsprung Halt gefunden. Ich muss es nicht tun, denkt er. Aber schon ist sein linkes Bein in der Luft. Er streckt es durch, hebt es höher, fühlt sich elegant, wie ein Eiskunstläufer. Sein ganzes Gewicht liegt jetzt auf seinem rechten Bein. Wie schwer er ist. Wie sehr es ihn zu Boden drückt. Er liebt diese Schwere, mehr als die Leichtigkeit, die damit einhergeht. Eine leichte Drehung, und schon stehen beide Beine nebeneinander. Auf der Wasserseite.
Sein Gesicht blickt auf die leere Brücke. Er ist allein. Die Straßenlaternen zeichnen matte Kreise auf den Asphalt. Seine Hände halten am Geländer fest. Wenn er beide loslässt, reißt ihn der Wind mit, trägt ihn davon, lässt ihn verschwinden. Er betrachtet seine Hände. Und fragt sich, was sie eigentlich tun? Sicher, über den Tag erledigen sie zahllose Handgriffe. Doch verändern sie etwas? Bewegen sie etwas? Wenn er sich diese Frage hier auf der Brücke stellt, ist die Antwort stets die Gleiche. Nein. Stillstand. Seit Jahren.
Er löst eine Hand, dreht sich, greift um sich, stellt die Fußspitzen zur Wasserseite, erst die rechte, dann die linke. Seine Fußsohlen glühen. Seine Handflächen schwitzen. Nun steht er da, Richtung Wasser gewandt. Er erkennt dumpfe Lichter in der Ferne. Der leichte Regen trübt ihren Glanz.
Er hasst diesen Stillstand. Er hasst die Pflaster, die auf Wunden geklebt werden, in der Gesellschaft, in der Politik, beim Umgang mit der Erde. Doch am Schlimmsten von allen ist er selbst. Er hat Kinder in die Welt gesetzt und ist ein tatenloses Vorbild. Ein Mitläufer. Ein Ja-Sager. Warum nicht alles hinter sich lassen? Er ist nur einen Schritt davon entfernt. Wenn er diesen macht, wird er fallen, und genau dort hart auf das Wasser aufprallen, wo schon vor wenigen Minuten seine Gedanken zersprungen sind. Er glaubt, dass es nur im Winter hart ist, gleich schwarz um ihn wird, die Kälte ihn sofort erreicht. Im Sommer wird es weich sein, wird er beim Eintritt in das Wasser zerfließen. Zuerst die Zehen, dann die Beine, zuletzt der Kopf.
Er löst seine Hände, streckt sie seitlich von sich weg. Jetzt ist er frei.
So frei, dass er neuen Mut schöpft. Er wird nicht aufgeben. Er wird nach Hause gehen, seinen Kindern einen Gute-Nacht-Kuss geben, sich zu seiner Frau legen, die bestimmt vor dem Fernseher eingeschlafen ist, sie fest an sich ziehen und ihr sagen, dass er glücklich ist. Dabei wird er lügen. Er wird sie anlügen. Und sich selbst.
Langsam senkt er die Hände. Legt sie auf das Geländer und festigt seinen Griff. Wieder Halt zu finden, gibt ihm Kraft, bestätigt ihn, das Richtige zu tun. Er dreht sich, stellt zuerst den rechten, dann den linken Fuß in Richtung Straße. Er atmet durch, bevor er ein Bein hebt, und über das Geländer zieht. Er verharrt einen Moment mit dem Geländer zwischen seinen Beinen. Dann hebt er das zweite Bein.
Seine Hände sind nass. Seine Stirn ist feucht. Der feste Boden unter seinen Füßen ist kalt. Mit beiden Händen streicht er über das Geländer, verabschiedet sich. Er nimmt sich vor, länger durchzuhalten, bis er wiederkommt. Er traut sich nicht zu hoffen, dass es das letzte Mal war. Er läuft in die Nacht hinein, läuft nach Hause, zurück, in sein Leben.