Miloš Živanović ◄
Übersetzung aus dem Serbischen von Jelena Dabić
Link zum serbischen Originaltext
1.
Ich lebe in keinem Land, das mich empfangen hat
mit einem Blankoschein für Reise- und Wohnrecht,
ich bin weggezogen, indem das Land verschwunden ist.
Es hat viel Blut verloren, aber den Großteil hat man gefunden
und zu den Vorräten für neue Taufen gegossen.
Viele Menschen sind jetzt hier, es sind andere Sprachverwandte,
während sich die Geschichte ereignete, ließen sie sie in Ruhe
als Selbsternährerin, sie ließen sie die Knochen von Hühnermitlauten aushusten.
Auch Straßenbahnen sind hier viele und sie sind anders, sie gleiten
voll wie eine zirkuläre frohe Botschaft des Siegers die Schienen entlang.
Die Leichen der Vergangenheit stinken nicht, denn Geld hat keinen Geruch,
der Geist aus der Flasche der Zugehörigkeit ist der Gestank des gestrigen Mittagessens,
das aus dem Aufgebrauchten in etwas Größeres gedruckt wurde,
mit einem Haltbarkeitsdatum, das vor einer Generation abgelaufen ist.
Eine kreisende Eile, Kollisionen von Wagen, Zusammenstöße von Farben,
hier sind viel Strom, Information und Wasser in den Flüssen,
die neuen Menschen fahren vielleicht gut und gehen weiter,
es erinnert an einen Plan, ich weiß es nicht, ich schwöre, ich bin nicht hier,
die Zahl der zugänglichen Nachbarn, die mich vergessen haben,
beträgt ein ganzes Auswandererquartier,
und auch ich erinnere mich nur manchmal interniert an sie;
vielleicht in einem Augenblick der Erholung, nachdem das Röcheln von meinen Lippen abgefallen ist,
als wir erst ein paar Selbstlaute aussprechen konnten
– in dieser Pause waren die Erinnerungen harmlos,
dann eine Sirene oder Glocke, alles Schmerzlose blieb verschlossen
im Hiatus zwischen Bett und Wand.
Ich erinnere mich, wie weit gespreizt die Nachkriegssommer waren,
die vollendete Geschichte soll in anderen Menschen blühen.
Anderswo kennt man die Schwermut nicht.
Das Kind weiß, dass es bald zu etwas Schlimmerem werden wird,
es ist ungewiss, wie lange und wie man seinen heißen Kopf halten soll,
und die besorgten Mikrologien kündigen immer klarer eine Übersiedlung an,
eine wahrscheinliche Bewegung, ein Maß für Zeit und Entfernungen.
In einem langen Wohnhaus an der Autobahn, mit einem Bienenwabengesicht
aus Bildschirm-Fenstern, lebten vor langer Zeit
meine jungen Eltern, wenn ich nicht alles geträumt habe.
Ich weiß nicht, auf welchen titanischen Fundamenten das horizontale
Hochhaus aus Sichtbeton weiterbesteht, ein Schaukasten für Schulen,
zusammengesetzt aus einem Sammlersatz an Kinderbauklötzchen,
abgelegt neben der mit mörderischen Geschwindigkeiten vollgestellten Rollbahn
wie ein Panorama-Schlafsaal am Rande eines Flughafens,
den schwerhörigen und reichen Fetischgästen zur Freude,
aber wenn du darunter durchfährst, erscheint das Gesicht der Sonne
auf allen grauen Bildschirmen mit abgerundeten Rahmen,
du eilst zu deinem Flug, zur Abreise, vom Widerschein tränt dein Auge.
Nach solchen Fenstern ist Fernsehen nur etwas für Augenblicke,
aus der Neugier eines Flüchtlings heraus,
in zerzausten Nestern von gemieteten Zimmern.
Bevor er sich stumm hinlegt, muss der Mensch sprechen
und hören, selbst wenn er der vollen Stimme des Fernsehsprechers zuhört
und durch lautes Vorlesen antwortet, ins Leere, zum Bildschirm hin.
Jedes affektierte oder unterstrichene Wort ist ein Steckbrief,
eine Ansichtskarte mit den besten Glückwünschen, von zu Hause, von hier,
von dort, wo an jeder Ecke eingerollter Kot wacht
oder eine eingerollte Schlange.
So beginnt die Figur ohne Drama, wenn sie den Moment erreicht,
in dem Verlust, Entfernungen und Trauer gestiegen sind
wie die Steuer, die man nicht mehr bezahlen kann,
und man die Tage heimlich durch fremde Zeit tragen muss,
den beharrlichen Schwung gegen die Urgewalt
der Kontra-Evolution zu verachten, sie schließt sich
in eine eigene Abteilung ein, in die Perspektive des Traums,
die sie mit den hastigen Reisenden aus dem Osten teilt,
die Perspektive, an die sie sich bis ans Ende ihrer Tage halten wird.
An einem glücklichen Tag, als könnte man das Leben begradigen
nach der Verfolgung falscher Abbiegungen,
wie ein ausgeweitetes Hemd der Trauer,
zu groß für das geschrumpfte Geschöpf, zieht die Figur laienhaft
den Regenmantel eines abstoßenden Fremden aus, geht auf den Bahnsteig,
von dem aus viele Unähnliche die eisernen Sehnen entlang loslaufen
und wo mancher jahrzehntelang verzweifelt mit dem Hammer schlägt.
Der abgeschriebene Hoplit der Liga für den Kampf gegen den Tourismus
spannt über die Schwellen die Saite der exakten Entfernung
von der gezeichneten Zuflucht am gezinkten Ufer,
in diesem unerklärlichen Blau
vor dem Felsen, an dem er anlegen wird.
Wo er vor der Klinge des Lichts weibliche Skulpturen sieht,
in den felsigen Stufen des Berges, zwischen Tannen,
und die mumifizierten Hände von Orests Amme küsst,
die blau geworden sind von Schlägen und dem Liegen im seichten Wasser,
er lässt sie mit ihrer Hand aus seinem infizierten Gewebe lesen,
welch kostbaren Fußspuren er denn da folgen wird,
auf einem Pfad, versteckt in einem Meer von Abdrücken anderer.
Er stellt sich vor, dass er seine geschwollenen Schritte
in die noch immer scharf umrissenen Spuren setzt.
Noch nie hat ein zielloser Reisender mit weniger Zurückhaltung
eine vergeblichere Zeremonie der Anrufung der Nähe eingeleitet.
2.
Ich bin in keinem Haus aufgewachsen, auf dem Statuen wachsen,
auf meinem alten Haus standen längliche,
ungenau ausgewachsene Vasen oder kleine Amphoren, gruppiert
in den Schatten zweier Nischen der wie vom strengen Frost bestäubten Fassade,
mit ihrer Form kündigten sie die glatte Oberfläche der Flasche und des Eises an,
aber die treue Wiederholung der Annahme dieser Kurven
fand immer wieder die nervöse Gänsehaut des Panzers
des Mauerrestes, unter zwei altmodischen
zweiflügeligen Fenstern, mit fest verkitteten Fensterscheiben und fetten
weißen Rahmen, perlmuttfarben dort, wo sie nicht abblättern,
links und rechts von zwei aufgesprungenen Treppenzusammenläufen
bis zum hohen Gang vor der Tür, die Symmetrien der Kindheit,
die Mechanik der Erinnerung.
Ich habe geglaubt, unter den dicken Bodenbrettern
ruhe eine mächtige Frau, die Erbauerin und erste Besitzerin,
jene, die die Bedeutung der Amphoren unter den Fenstern bewahrt.
Am Morgen weiß ich, dass sie in den Wänden Gift versteckt hat,
die wohlüberlegte Investition leuchtet hervor
mit dem vervielfachten Gewinn des Sinnes,
der nach dem langjährigen Schweigen angekommen ist.
Bei Umzügen rage ich aus der Truhe hervor.
Das Ende des angefaulten Sommers, eine Zwischenjahreszeit,
hat mich in einem Haus angesiedelt, auf dem zwei verspätete,
aber zerschlagene Biedermeier-Cherubim gewachsen sind,
die durch einen Sturz in den Herbst stumm erblühen werden.
Sie gossen aus Krügen eine mysteriöse Flüssigkeit ins Leere,
es wäre leicht gewesen, eine Schüssel aus Händen durch das Fenster zu reichen
unter der krummen Blechlinie des eingesunkenen Daches,
des schimmligen Segels mit gebrochener Wirbelsäule, das Regenwasser auffängt,
damit es wie aufgelöste Tinte Tropfen gegen Plafonds schießt,
durch geöffnete Kapillaren dringt es in Wände ein, zerfließt
in die blauen Flecken des bestraften Interieurs, das zu groß ist,
um jemals zu trocknen oder warm zu werden. Das regennasse Zimmer
schüttelte sich grippekrank und die pausbäckigen Gießer prasselten
vom unsichtbaren Teilchenbeschleuniger mit Eberköpfen,
dem Zertrümmerer des Lebens in Bruchstücke von Bildern und Gedanken,
der sich drehte und brummte, tief in den Kellern
mit dem tiefsten Ton auf der Skala des Knurrens.
Für die Richtigkeit des Alptraums, die ich von diesen Ufern sehe,
werde ich der Dogenflüssigkeit, die in der Plastik meiner Häuser verborgen ist,
weihevoll deinen Namen geben,
einmalig, nachträglich, unwiderruflich.
Eine völlig apathische Dekonstruktion
gelbstichiger Szenen aus einer zerfledderten Mappe,
als ob das Foto den Abstand zwischen den Impulsen lösen würde.
Du blickst von irgendwoher, blind wie eine Kamera.
An diesem Sommertag unter anderen Tagen rutschen mir die Fäden
durch die Finger, meine Hände formen aber aus der Leere eine Silhouette,
deine abtrünnige Zwillingsschwester, da kommt sie, auf dem Wasser,
wie in einem von Funken des Wahnsinns getroffenen Spiegel.
3.
Ich kam an dem Tag, an dem die Leute Pferde ins Meer führen,
sie am Festtag begleiten, paarweise wie Jubilare.
Die beschlagenen Hufe klappern wie das Taufen von Verurteilten.
Die gefährliche, nahe Frische erregt die Tiere,
die vom Staub der langen Dürre ermüdet sind, es hält sie noch die feste
Zivilisation der einsamen Zutraulichkeit, aber das Herz ist ein Spion,
die Adern der verworrenen Wünsche schlagen unter ihrer Haut, unter der Berührung,
der Puls im Diktat der Zahlen verfolgt sie rippenförmig unter dem Hemd.
Ich entlarve sie, heute komme ich aus dem grauen Norden.
Sie sehen das weite Meer vor sich, sie wissen, dass seine Gnade
immer zweideutig ist. Sie gehen dramatisch ins Meer, wie wenn ein zurückgedrängtes
Heer sich zwischen Wellen und Kapitulation entscheiden muss,
verraten suchen sie mit schielenden Augen den unvergleichlichen Verwandten im Wasser,
die ländlichen Reiter verstehen es heute nicht, Vertrauen zu fassen.
Kräftige Frauen in Sonntagskleidern stehen
um den kleinen Patriarchen wie eine Wache aus Mänaden,
als würden sie ihn, im Pakt mit den Pferden, packen und wegbringen,
tief ins Gebirge, einem erhitzten Kentaur zur Beichte.
Der Geistliche beginnt schwer und schlaftrunken zu singen, das Mantra
bleibt wie eine Hummel im schwammartigen Büschel Haare hängen.
In den Alten hallt es wie in den Bechern wider, aus denen sie Wein trinken,
wenn sie die Arme erheben zum zärtlichen Namen, der vor ihnen weicht,
am Fuß des Berges, aus dem Masten wachsen, mit Tannen bedeckt,
und die Höhlenaugen der Überseeschmuggler Meerengen zeichnen.
Ich kehrte zurück an dem Tag, als der Regen sich über das Meer stürzte,
die Klingen kommen, man sieht schon die zerrissenen Vorhänge jenseits der Bucht,
das Relief verklebt zu einer Kruste der Bescheidenheit über der Nullhöhe.
Die Schlachten der Wilden, die woanders gewütet haben, die getöteten Hornvipern,
lege ich auf die Erde unter einen eisernen Olivenbaum,
damit der grüne Mond sie heute Nacht, gewaschen, zu in Ogham- und Harfschrift
geschriebenen Legenden verflechten kann, über unanständig glückliche Ausgänge
für unwürdige, vermutete Figuren.
Von irgendwoher erinnere ich mich an dich, obwohl es nichts zu erinnern gibt,
als Mädchen liegst du in der Weite eines grünen Abhangs
zwischen anästhesierten Kühen, die in buntes Leder gekleidet sind,
du schwingst mit den Armen durch ein Meer aus hohem Gras.
Am Rande des Festlands stützen mich Leiber der erneuerten Welt,
ich führe dich, halte dich an der Hand, aber etwas zerfließt
als wären unsere Finger abgeschnitten, als hätte ich die Zeit, die ich für dich
gestohlen habe,
in zersprungene Krüge gegossen.
Eine schwarze Stute streichelt mir mit langsamen Kopfbewegungen übers Haar,
ich sehe tief in ihr Auge aus ungewohnter Nähe, von der Mähne
tropft es salzig wie eine Träne und fast schäme ich mich, den Blick
auf ihre Flanken zu senken.
Das schwärzliche Licht ihrer Augen leuchtet für mich auf,
eine Art antizipiertes Glück explodiert, zerstreut sich,
eine Art schäbige Beherztheit sammelt sich in der geballten Faust,
drückt die Fingernägel in die Handfläche, in die hohle Faust zieht sie
ein Lichtband von diesem unvorsichtig beredten Glanz.
Die Hände der alten Bauern und ihrer Tagelöhner aus Elbasan
sind knotig und wie Waffen der Baumdämonen gewachsen,
dennoch, wenn wir uns die Hand geben, rascheln sie wie ganz junges Laub,
sie wissen, dass auch meine Hand erkrankt ist, keine will mehr nach den
erhobenen Gewehrläufen greifen. Die Hände sind tätowiert
mit den Bissen verzärtelter Besonnenheit der fremden Zeit des Waffenstillstands
und des Sieges,
sie breiten sich nach Ringerart aus zu einer tänzerischen Umarmung der Willkommenskultur,
gleichgültig, im Überfluss von allem ist sie zu einem jenseitigen Einerlei geworden,
der nahe Osten war keinem näher und hat sich träge mit uns gedeckt.
Sei uns willkommen, sei auch du uns willkommen, du Terroristin,
wenn dein Herz ein Spion ist, am Eingang zu einem unerklärlichen Blau,
der kindlichsten Nuance des zerkratzten Europas.
Die Wolken überlappen sich über den Köpfen wie Stadien und Epochen,
die Jahre verschwinden, während der Tag steht und ein Gewitter kommt, die dunkle Bläue
hat die Hälfte des Firmaments und der Sonne bedeckt, die lebende Hälfte verbrennt
sich selbst,
man bespritzt Materieströme und die Möwen erheben sich wie verwunderte Augenbrauen.
Jacques Brel trauert vis-á-vis heiser für die Gäste, für die Reisenden,
jene mit dem unhinterfragbaren Recht auf die Annehmlichkeiten der Trauer,
und ein Dorfnarr, ein Gebirgskreisel mit einem andersartigen Verstand,
bohrt um mich herum in einer alptraumhaften Danza dei banditi
jeden gewissen morgigen Tag mit Schreien und Schüssen aus den Daire-Trommeln,
sein Chanson zeichnet deinen entschlossenen Stakkatotanz ins Leere,
du besetzt die ganze Küste, sie wird zu einer weiteren Kolonie,
wie die ganze Vergangenheit, dem neuen Anvertrauen untertan,
das nie beginnen wird.