Evelyn Schalk ◄
Ein Jahr Kultur. Von bis. Abhaken, weitermachen. Bitte nicht stehenbleiben, hier gibt es nichts mehr zu sehen. Und dann wieder business as usual. Umso funktionierender, weil kulturell gut geölt. Alles bleibt beim Alten, sieht aber wie frisch gestrichen aus. Nur nicht kleben bleiben.
So läuft das nicht, es verläuft sich, einmal mehr, oder weniger. Bloß wohin?
Kultur ist keine Verordnung, deren Rezept man in der Apotheke einlöst, 365 Tage regelmäßig anzuwenden, bei anhaltender Wirkung.
Aber Kultur ist ein Lebensmittel. Ein Grundbedürfnis. Die Basis von Zusammenleben. Macht und Möglichkeiten. Freiheit und für wen diese gilt.
Kulturjahr meint Kulturstadt. Graz 2020. Aber eine Stadt wird nicht zur Kulturstadt, indem sie sich ein Jahr lang als solche proklamiert. Sie wird es in jenem Maß, in dem sie Teilhabe möglich macht, in dem sie soziale Schranken abbaut, in dem sie gläserne Decken zertrümmert, in dem sie die Armut, nicht die Armen, mit allen Mitteln bekämpft und ein Miteinander auf Augenhöhe zur Handlungsgrundlage erklärt.
Sie wird es, wenn sie Freiräume schafft, Zeit gibt, Druck abbaut, Bewegung ermöglicht, Zugänge öffnet. Sie wird es, wenn das keine Privilegien weniger sind, sondern reale Möglichkeiten aller. Sie wird es, wenn Bildung nicht vererbt, sondern für alle erreichbar ist. Kulturstadt wird sie, wenn Rassismus, Sexismus und Homophobie nicht als Meinung bagatellisiert werden, sondern auf entschiedenen Widerspruch treffen und bekämpft werden, wo immer sie auftauchen.
Sie ist es, wenn sie Seite an Seite steht mit den Opfern, nicht mit den Tätern.
Das bedarf einer klaren politischen Haltung und entsprechenden Handlungen, nicht an einem Tag, nicht in ein paar Monaten, sondern es bedeutet eine tiefgreifende Grundsatzentscheidung und ihre langfristige Umsetzung. Gegen reaktionäre Widerstände, gegen einschüchternde Hetze, gegen den Druck neoliberaler Seilschaften. Utopie? Man kann es auch Antifaschismus, soziale Gerechtigkeit, gutes Leben für alle oder schlicht Verantwortung nennen.
Das bedeutet Graz verändern.
Eine Kulturstadt ist eine, die sich schonungslos kritisch mit ihrer Geschichte auseinandersetzt und diese Auseinandersetzung auch öffentlich sichtbar macht. Es ist eine, in der keine Straßen nach (Austro)Faschisten sowie Mitläufern und Verbrechern des Nazi-Regimes benannt sind, sondern nach denen, die ihnen Widerstand geleistet haben. Es ist eine Stadt, in der auf eben diesen Straßen Rechtsextreme sowenig Platz haben wie in ihren öffentlichen (Repräsentations)Räumen und Funktionen. Es ist eine Stadt, die einen öffentlichen, kritischen Diskurs über ihre Rolle in der Geschichte und Gegenwart nicht nur nicht verhindert, sondern aktiv befördert, auf allen Ebenen. Es ist eine Stadt, die aus der Vergangenheit ihre Lehren für die Zukunft gezogen hat und in der Erinnern in jeder Handlung ‚Nie Wieder‘ heißt.
Es ist eine Stadt, die für alle da ist, die Hilfe brauchen, die jenen die Türen öffnet, die gestrandet sind, geflohen, die nicht wissen wohin und wie weiter und die sich mit ihnen solidarisiert.
Das bedeutet Graz öffnen.
Kulturstadt ist kein Event und kein Spektakel, sie braucht keine CEOs, die über Optimierung von Profiten auf Kosten der Mehrheit der Bewohner*innen referieren und Kulturschaffende, die sich dafür instrumentalisieren lassen. Kulturstadt ist kein Abzeichen, das sich irgendwer ans Revers heftet oder den Hut steckt und es ist kein Label im Citymarketing, das die Übernachtungszahlen ankurbelt, während Menschen in dieser Stadt nicht wissen, ob und wie lange sie ein Dach über dem Kopf haben. Kulturstadt ist auch kein Motor für noch mehr Produktion unter noch prekäreren Bedingungen, weder im Kunst- und Kultursektor noch sonst wo.
Stattdessen weiß eine solche Stadt um den Wert kultureller und sprachlicher Vielfalt und fördert sie, in ihren Institutionen, in der Öffentlichkeit, im Alltag ihrer Bewohner*innen, und zwar aller. Sie drängt sie nicht an den Rand, sondern macht diese Vielfalt sichtbar, hörbar, lesbar – kurzum, sie normalisiert sie und entzieht damit der Hetze den Boden.
Das bedeutet Graz entwickeln.
Ein Jahr, ein Moment. Kultur ist notwendig. Wort für Tat für Leben.
To be continued.
In eigener Sache:
Der ausreißer setzt im Rahmen des Kulturjahr2020 das Projekt wORTwechsel zusammen mit dem Literaturhaus Graz um. Darin wird versucht, partizipative Ansätze zu entwickeln und den literarischen Fokus zusammen mit ihren Bewohner*innen auf jene Orte zu legen, die zentral im städtischen Leben sind, aber im literarischen und kulturellen Diskurs immer und immer wieder marginalisiert werden. Doch Literatur ist und prägt Stadt, Leben, Geschichte, Literatur bedeutet Existenz, Spuren, Reisen, Utopie, den Entwurf einer anderen Welt – für jede*n, der Zugang und die Möglichkeit dazu fehlen aber für viel zu viele.
Zusammen mit den Literaturzeitschriften perspektive und Lichtungen gibt der ausreißer ebenfalls im Rahmen des Kulturjahr2020 das mehrsprachige Magazin transLETTER heraus. Es setzt den Ausgrenzungsmechanismen von Monolingualität, dem Beharren auf einer einzigen Sprache und den daran gekoppelten nationalen Narrativen Vielfalt und multilinguale Präsenz entgegen.
Mehr zu beiden Projekten wird in den kommenden ausreißer-Ausgaben sowie online berichtet.
Als nicht-kommerzielles Medium publiziert der ausreißer werbefrei und unabhängig. Die Beiträge sind für alle frei lesbar. Damit das auch so bleibt, brauchen wir eure Unterstützung!